16-7-2004

 

ELIAS CANETTI

(1905 - 1994)

 

 

Elias Canetti wurde am 25. Juli 1905 in Rustschuk/Bulgarien als Kind spanisch-jüdischer Eltern geboren. 1911 zog seine Familie nach England und 1913, nach dem Tod des Vaters, nach Wien. Hier studierte Canetti bis 1929 Naturwissenschaften und promovierte in Philosophie. Nach dem "Anschluß" Österreichs ging er nach London, später nach Zürich, wo er am 14. August 1994 starb. Neben zahlreichen Ehrungen erhielt er 1981 den Nobelpreis für Literatur. Zu seinen herausragenden Werken zählt neben dem Roman "Die Blendung" seine Autobiografie, die in den Bänden "Die gerettete Zunge", "Die Fackel im Ohr" und "Das Augenspiel" erschien.

 
Elias Canetti

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taz Nr. 7128 vom 12.8.2003, Seite 13, 170 Zeilen (Kommentar)

In Verwirrung, aber entschlossen

Wie man mit Texten der Macht und Allgegenwart des Todes trotzt und Menschen durch Worte am Leben erhält: "Party im Blitz", Elias Canettis Anfang der Neunzigerjahre entstandene und jetzt postum veröffentlichte Erinnerungen an seine Zeit in England

von CRISTINA NORD

Elias Canetti: "Party im Blitz". Hanser, München und Wien 2003, 248 Seiten, mit Abb., 17,90

Elias Canetti hat in vielen Städten und Sprachen gelebt. Zur Welt kam er 1905 im Donauhafen Rustschuk. Die Sprache seiner frühen Kindheit war das Spanisch der 1492 exilierten sephardischen Juden. Im Unterricht lernte er das Französische, nach dem Umzug der Familie nach Manchester das Englische und schließlich das Deutsche, diese "spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache". Canetti studierte es auf Drängen der Mutter, nachdem sein Vater vor der Zeit verstorben und die Familie nach Zürich übersiedelt war.

Canettis autobiografische Trilogie "Die gerettete Zunge" (1977), "Fackel im Ohr" (1980) und "Das Augenspiel" (1985) erstreckt sich von den frühen Rustschuker Tagen bis ins Wien der Dreißigerjahre. Die leitmotivisch je einer Sinneswahrnehmung zugeordneten Bände beschreiben den Prozess einer Weltaneignung, an dessen Ende die einzig mögliche Heimat steht: die Ankunft in der Sprache und in der Literatur.

Zu Beginn der Neunzigerjahre, wenige Jahre vor seinem Tod im Jahre 1994, machte sich Canetti daran, der Trilogie einen vierten Band hinzuzufügen: "Party im Blitz", Erinnerungen an seine Zeit in England. Dorthin emigrierte er, nachdem er 1938 kurz in Paris Station gemacht hatte. Er blieb dort, auch als der Nationalsozialismus besiegt war. "Party im Blitz", soeben postum veröffentlicht, ist kein abgeschlossener Text, sondern eine fragmentarische, bisweilen in sich kreisende Sammlung von Porträts, die Canetti über seine Londoner Freunde und Bekannten verfasste. Über sich selbst verliert der Autor wenige Worte. Kaum etwas erfährt man über die prekären Verhältnisse, in denen er und seine Ehefrau, die Schriftstellerin Veza Canetti, zunächst zu leben gezwungen waren. Erst im Spiegelbild der kurzen Porträts nimmt auch Canetti Kontur an.

Dabei artikuliert sich zunächst ein hartnäckiges Unbehagen: "Das Schlimmste an England sind die Vertrocknungen, das Leben als gesteuerte Mumie." Canetti meint damit, dass seine Londoner Umgebung Kälte und Gefühllosigkeit an den Tag lege. "Distanz ist eine Hauptübung der Engländer. Sie kommen einem nicht nahe." Gekoppelt daran sei Hochmut, der sich auf vielgestaltige und schwer zu durchschauende Weise äußere. Zum Beispiel während der Partys: Kein Gespräch, klagt Canetti, habe bei diesen wichtigen gesellschaftlichen Anlässen je Verbindlichkeit oder Nähe erzeugt, stets hätten Rangfolgen existiert, undurchsichtige und unausgesprochene Gesetze. "Wer von nirgendsher kommt, d. h. nirgends aus England, existiert nicht, dafür wird er mit größter Höflichkeit behandelt, die umso exquisiter ist, je weniger man hinter ihm vermutet."

Doch ist dies nur die erste, die offensichtliche Seite von "Party im Blitz". Dahinter verbirgt sich eine ambivalentere Haltung. Je mehr sich Canetti ins Zeug legt - ob nun gegen Margaret Thatcher oder gegen T. S. Eliot -, desto mehr relativiert sich sein Urteil. Nicht zufällig lautet der erste Satz von "Party im Blitz": "Ich bin in Verwirrung über England." Noch in den schärfsten Passagen - dort etwa, wo Canetti über seine Geliebte, die Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch, schreibt - gibt eher er sich preis, als dass er das Objekt seiner Reflexion beschädigte. Als traurigen Akt skizziert er den Sex mit Murdoch, als "eine peinlich einseitige Geschichte, die ich gegen meine Neigung hinnahm und unbeteiligt beobachtete". Einmal lädt er Murdoch ein, sie zu einem Treffen mit dem von ihm hoch geschätzten schottischen Adligen Aymer Maxwell zu begleiten. Sein Entsetzen darüber, dass sie, um Maxwell zu beeindrucken, eine durchscheinende Bluse trug, wird er nicht müde zu beschreiben. Es sind dies seltsame Passagen: Warum liegt Canetti so viel daran, Murdoch mit seinen Worten zu vernichten, wenn ihm doch klar sein müsste, dass seine Boshaftigkeit auf ihn, nicht auf sie zurückfällt?

Dennoch prägen sich die Verdichtungen gerade solcher Passagen ein. Während der Kriegsjahre wird das Ehepaar Canetti aufs Land umgesiedelt. Sie finden Quartier in der Ortschaft Chesham Bois, bei den Milburns, einem alten Ehepaar. Immer dann, wenn Bomben fallen, verkriechen sich die Milburns unter dem Küchentisch. Veza Canetti, ungerührt vom Geräusch der Flieger und Bomben, bereitet ihnen derweil eine Mahlzeit; "wenn Veza ihnen das Essen unterm Tisch zuschob, lappten sie es gierig wie Hunde. Die Laute ihres Schlürfens waren bis zu uns hinauf zu vernehmen. Als Hunde fürchteten sie die Aufmerksamkeit der Flieger oben nicht. Nur Menschen hatten in jeder Hinsicht zu verschwinden."

Zu Canettis literarischem Plan gehörte es, mit seinen Texten der Allgegenwart des Todes zu trotzen. "Party im Blitz" ist als Teil dieses Plans zu begreifen. Denn indem das Buch an die Hampstead intellectuals erinnert, bewahrt es eine untergegangene intellektuelle Szene. Wenn Canetti "Menschen durch Worte am Leben erhalten" wollte, so ist ihm dies zweifellos gelungen - nicht nur im Fall der Milburns.

 

13-8-2003

Die irgendwie falsche Freundschaft

Von der Lust des Angriffs und der Last der Verachtung: Elias Canettis Nachlasswerk „Party im Blitz“

Welche Geister liebt man so sehr, dass man es nicht wagt, alles von ihnen zu lesen?

 

ELIAS CANETTI: Party im Blitz. Die englischen Jahre. Hanser Verlag, München 2003. 248 Seiten, 17,90 Euro.

 

Bei Elias Canetti herrscht immer Krieg: Um die Liebe, also ums Geld geht es in der „Hochzeit“; in der „Blendung“ will die Haushälterin Therese ihrem Untermieter, dem weltfremden Sinologen Peter Kien, an den Leib, an die Bibliothek, also ans Leben; in der großen Mythenerzählung „Masse und Macht“ bekämpfen sich die Massen, kämpfen Mächtige und Ohnmächtige um die Oberhand, kämpft Canetti gegen Sigmund Freud; in den autobiografischen Büchern wird mit der Mutter gerungen, mit Karl Kraus, noch erbitterter mit Freud und doch auch mit dem Vater, der starb, als Canetti sieben Jahre alt war, bei der morgendlichen Lektüre der Zeitung, die Nachricht von einem neuen Krieg brachte.

Wie viele Kriege hat Canetti Zeit seines Lebens (1905 bis 1994) mitgemacht? „Es begann für mich mit dem Balkankrieg (1912) und ist achtzig Jahre später (1992) in den Balkankrieg zurückgemündet“, heißt es in den letzten „Aufzeichnungen“. Dazwischen der Erste und Zweite Weltkrieg, danach sämtliche lokalen Konflikte, die einen dritten vermeiden helfen sollten: der um den Suez-Kanal, der Sechs-Tage-Krieg, Vietnam, die afrikanischen Befreiungs- und Stellvertreterschlachten, die vergessene Falkland-Kampagne, der erste amerikanische Golfkrieg. Hans Magnus Enzensberger borgte sich den Begriff, mit dem er seinerzeit Saddam Hussein unserm Hitler beigesellte, bei Canetti: der Feind der Menschheit.

 

Der Fluch aller Menschen

 

Bis zuletzt sah sich Canetti selber als „Tod-Feind“, als einsamen Kämpfer, der sich nicht damit abfinden kann, dass er, dass der Mensch zum Sterben verurteilt sein soll. Das ist ein Denken wider besseres Wissen, aber mit dem eigenen Körper. Macht und Ohnmacht, Krieg, Erniedrigung, jede Form von Leid spürt er am eigenen Leib.

In Canettis Erinnerungen an die dreißiger Jahre kommt der Held 1937 in großer Erregung ins Wiener Café Museum, um sich mit seinem Freund Dr. Sonne (Abraham ben Yitzchak) zu treffen. „Guernica war von deutschen Fliegern mit Bomben belegt und zerstört worden. Ich wollte einen Fluch von ihm hören und er sollte der Fluch aller Basken, aller Spanier, aller Menschen sein.“ Sonne aber sagt nichts. Er schweigt, zeigt seine Ohnmacht, sagt dann um so machtvoller: „Ich zittere um die Städte.“ Das Zittern war berechtigt. Bald darauf marschierten die Nazis in Österreich ein, Canetti musste mit seiner Frau fliehen. In England fanden sie Zuflucht, doch die deutschen Bomber folgten ihnen, um die Städte zu zerstören. Der moralische Surplus einer solchen Vorahnung ist kaum zu überbieten. Erschienen ist „Das Augenspiel“ allerdings erst im sicheren Abstand, 1985.

Elias Canetti, der Canetti der veröffentlichten Bücher, leidet mit dem Unglück des Menschen und der Welt, er macht es sich so prophetisch zu eigen wie Jeremias und selbst der wankelmütige Jonas. „Ich kann keine Landkarte mehr sehen. Die Namen der Städte stinken nach verbranntem Fleisch“, lautet einer der frühesten Einträge 1943 in den Aufzeichnungen, die unter dem Titel „Die Provinz des Menschen“ herauskamen.

In den Notizen über die „englischen Jahre“, 1990 bis 1994 entstanden und jetzt unter dem merkwürdig aufgesteilten Titel „Party im Blitz“ erschienen, kommt der Krieg allerdings kaum vor. In seinem Nachwort möchte Jeremy Adler den verworrenen Band als Fortsetzung der Lebensgeschichte verstanden wissen. Dafür fehlt aber nicht bloß die stilistische Bearbeitung, auch die Stilisierung des Erzählers zum Welt-Ich ist nicht so weit fortentwickelt wie in den vorigen drei Bänden. Andererseits präsentiert die fehlende Stilisierung Elias Canetti persönlicher und direkter, als ihm lieb sein könnte.

 

Ein Niemand in England

 

Vielleicht bestätigt sich auch nur, was Canetti in seinen Aufzeichnungen schon fünf Jahrzehnte früher notierte: „In England magern die Worte ab.“ Flugzeuge sind kurz in der Luft, aber es sind nicht einmal deutsche. Viel drängender als der Krieg ist die Armut der Flüchtlinge, doch auch die erwähnt Canetti nicht. Seine Frau schreibt 1940 an den gemeinsamen Freund Franz Baermann Steiner: „Wir leben noch und sind auch in London, aber während die anderen in ihren Häusern und shelters auf die Bomben warten, haben wir gewöhnlich nicht den Zins für das Zimmer, das über uns einbrechen wird.“ Die Canettis lebten bald nicht mehr in London, sondern auf dem Lande in Amersham, waren weder von Bomben bedroht noch von den Aufräumarbeiten in London.

Die „Trostlosigkeit auf Parties“, die Canetti beklagt, hat den nächstliegenden Grund: „Ich war den Engländern völlig unbekannt, unter zwanzig oder dreißig Dichtern ein Niemand, ich hatte schon über fünf Jahre im Lande gelebt, aber nichts publiziert.“ Da Unwissenheit nicht vor Strafe schützt, lässt es der spätere Nobelpreisträger diese Banausen entgelten. Auf seine letzten Tage verstand sich Canetti offenbar als eine Art Mentalitätshistoriker. Es gelingen ihm allerdings keine bedeutenden, schon gar keine ethnologisch brauchbaren Aussagen. „Distanz“ soll „eine Hauptübung der Engländer“ sein, „Selbstbeherrschung und Ruhe die einzig legitimen Mittel, das Leben zu meistern“. Am Ende läuft es auf den Satz hinaus: „Ich bin in Verwirrung über England.“ Der oft grausame englische Humor (und Canettis Werk ist grausam humorfrei) liefert nur Grund zum Tadel und verleitet den Kulturkritiker zu einem seiner absurdesten Sätze: „Die Freude am Hin- und Herschwingen der Gehenkten damals ist nur der heute an den Beatles zu vergleichen.“

Margaret Thatcher wird noch einmal in Grund und Boden verdammt, Oxford gleich mit, weil es ihn nicht aufnahm, die alte Klassengesellschaft hinterdrein, deren Spitzenvertreter sich doch alle Mühe gaben, einen Exoten wie Canetti an sich zu ziehen. Viele der Aristokraten, Wissenschaftler, Dichter, die er erwähnt und zumeist tadelt oder gleich beschimpft, haben sich um den Autor gekümmert, von dem es genau ein Buch und das nur auf Deutsch gab. Sie haben ihn finanziell unterstützt, mit auf Reisen genommen, weiterempfohlen. Tut aber nichts: „Ich hatte in England gelebt, als sein Geist zerfiel.“

Dieser Englandhass ist nicht einmal authentisch, sondern nachgetragen. In den Aufzeichnungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit findet Canetti ganz andere Worte für das Land, in dem er von 1939 bis Anfang der siebziger Jahre lebte: „Zuhause fühle ich mich, wenn ich mit dem Bleistift in der Hand deutsche Wörter niederschreibe und alles um mich herum spricht Englisch.“

Die Wahrheit über das lange Leben in London, währenddessen sich Canetti ein Schreibverbot auferlegt hatte und nur für „Masse und Macht“ sammelte, sich daneben in einer geschäftigen Satyriasis erging, zwischen Bibliotheken und Geliebten hin und her wanderte, zwischen Zweit- und Drittfrauen wie Anna Mahler, Friedl Benedikt, Marie-Louise von Motesiczky und Iris Murdoch, die erobert sein wollte, während in der gleichen kleinen Wohnung die Hauptfrau Veza für das Liebespaar kochte –: dieses eher komische Emigrantenleben wartet noch auf einen Autor. Der Canetti zuletzt unendlich verhasste Thomas Bernhard hätte es sein können.

Canetti, das zeigt sich in diesem Nachlassband, ist nicht der beste Autor seines Lebens. Dafür ist er immerhin, wie er selber über Karl Kraus sagt, „von der Lust und Unersättlichkeit des Angriffs erfüllt“. Manche Bemerkungen sind in ihrer Übertreibungslust tatsächlich ein wenig komisch. T. S. Eliot, der sich nichts Schlimmeres zu schulden kommen ließ, als lang vor Canetti den Literaturnobelpreis zu empfangen, ist „eine erbärmliche Figur“, ein „Wüstling des Nichts“, wie eigentlich alle Engländer eine „gesteuerte Mumie“. Die vor fünf Wochen gestorbene Dichterin Kathleen Raine hat ihn zwar nach Kräften gefördert, aber sie gehörte „zu den Menschen, die ich jahrzehntelang kannte und doch nie mochte“. Es war eine „irgendwie falsche Freundschaft“. Irgendwie falsch muss auch das Verhältnis zu Iris Murdoch gewesen sein, das zwar vier Jahre währte, aber doch nichts Rechtes war. „Vielleicht hätte ich mich, wenn es etwas ganz anderes gewesen wäre, doch in Liebe zu ihr finden können.“ Aber leider war es nicht ganz anders, sondern so: „Alles, was ich am englischen Leben verachte, ist bei ihr gesetzt worden.“

 

Wollige, unschöne Sachen

 

Aber was war denn nun falsch an ihr? „Ich halte Iris für einen sozusagen ‚illegitimen‘ Dichter.“ Außerdem hat sie mit Homosexuellen geflirtet und, als sie mit Canetti ins Bett ging, „Sachen an, die nicht das Entfernteste mit Liebe zu tun hatten, wollige, unschöne (...) Es war keine Zeit, ihre Sachen oder sie selbst zu betrachten.“ Vor allem hatte die Autorin Iris Murdoch den Erfolg, der vielleicht einem verkannten Dichter zustand, aber doch nicht einer Oxford-Studentin in Wollsachen. Canetti hat ihr das nie verziehen.

Auf ganz andere als die sonst stilisierte Weise zeigt sich Canetti in diesem aufgeregten Buch als Todfeind. T. S. Eliot und Iris Murdoch werden mit dem biblischen Fluch bedacht, den sich der junge Canetti 1937 im Wiener Kaffeehaus vom verehrten Dr. Sonne erwartete.

In der „Party im Blitz“ lodert sein höchst persönlicher Hass, der nachgetragene Zorn für die Minderachtung, mit der er so lange leben musste, der Jahrzehnte lang wühlende Neid auf den Erfolg anderer. Der Leser, der Verehrer Canettis hätte sich diese Niedrigkeit gern erspart.

„Du magst dich stellen, wie du willst, mild und verzeihend, Verachtung bleibt in deinem Zentrum, und wirklich hast du etwas zu sagen, wenn du etwas verachtest.“, heißt es in den „Aufzeichnungen 1992-1993“. Es ist traurig, aber wahr: Bei aller Verachtung hat Canetti in diesem Buch nichts zu sagen. Sein letzter Krieg, der Krieg gegen sich selber, geht in einer langweiligen Party zu Ende.

 

WILLI WINKLER

 

N Z Z  Online

 

Neue Zürcher Zeitung, 7. Oktober 2003, Ressort Bücherherbst 2002

Canetti ohne Mantel, mit Wenn und Aber

«Party im Blitz» - der Schriftsteller erinnert sich an England und entdeckt gemischte Gefühle

Von Martin Meyer

 

Niemand verlangt von den Dichtern, dass sie ihresgleichen lieben sollen. Schreiben meint Wege in die Einsamkeit, der so Verlorene kehrt - vielleicht - mit Schätzen wieder zurück, doch mancherlei Qualen begleiten ihn weiterhin. Wer sich dann um Konkurrenz nicht schert, auch den Neid von sich weist, darf als Glückskind gelten; oder man zeiht ihn der Naivität. Wenn viel Zeit ins Land gegangen ist, also Erinnerungen - Memoiren, Geschichten - möglich werden, glättet sich wohl manches. Rivalen von einst verwandeln sich in späte Freunde, im Tod vorangegangene Kollegen zeigen sich im Licht einer korrigierenden Generosität. Es gibt auch das andere. Ein Hadern und Kritisieren, dessen «Arbeit» weniger Trauer als Vitalität bezeugt. Der Lebensvorsprung dient noch immer der Sicherung des Eigenen gegenüber fremder Grösse, die sich als Schein und Trug entlarvt.

Spät in seinem Leben - nämlich seit 1990 - erinnert sich Elias Canetti an seine Jahre in England. Er trägt Materialien, Skizzen, stenografische Kürzel zusammen, die abermals zu Stücken seiner Autobiografie geformt werden. Das Projekt folgt keinem strengen Plan; im Gegenteil setzt der Autor da und dort an, einiges streift er, anderes vertieft er mit wiederholendem Nachdruck. Worum es ihm dabei geht? Um Exkurse in eine Epoche vielfacher Gefährdung - sowohl der eigenen Vita, der die Last des verkannten Genies schmerzvoll aufsitzt, als auch der weltgeschichtlichen Lage: Bis 1942 dürfen selbst Optimisten nicht damit rechnen, dass Hitlers Macht- und Vernichtungstrieb bald gebrochen werden kann.

Wir lesen ein Dokument. Doch wäre sich Canetti untreu geworden, wenn er nun die Tonart des Denkens und Schreibens ins Ruhige, gar Versöhnliche moduliert hätte. Jedenfalls gibt sich das Buch - aus dem Nachlass gewiss mit Sorgfalt, aber freilich ohne das Plazet des Dichters kompiliert - wie nur eh und je streitbar, mitunter rabiat, und insofern ist es vollkommen authentisch. Dass die Engländer im Grunde ihres Herzens kalt und arrogant sich gerierten; dass die Riten ihres Alltags oft genug ins Kuriose, ja Lächerliche ausschlügen; dass kaum einer, eine Gehör finde für das Ausserordentliche des Emigranten - dies kehrt so deutlich und insistent wieder, als ob es Canetti erst gestern erfahren, man muss eher sagen: erlitten und noch keineswegs verdaut hätte. Der bald Neunzigjährige nährt die Flamme der Empörung; sie knistert unterm Fauteuil der upper classes und schiesst versehrend auf, wenn sie T. S. Eliot oder - aus anderen Motiven - Iris Murdoch am Fleische brennt.

Solchem Verfahren liegt - nach Canettis eigenem Bekunden - eine Methode zugrunde, die ihr Autor vorbildlich bei einem Chronisten des 17. Jahrhunderts vorgefunden hätte. Knappe und glänzende Charakterporträts seiner Zeitgenossen skizzierte damals der Historiker John Aubrey - Aubreys Konterfei des grossen Hobbes gilt als Meisterstück des Genres. Zu denken wäre weiter an La Bruyères «Caractères» wie an anderes epigrammatisch Verschärftes aus dem Umkreis der Moralisten. «Moral» dann trägt auch Canetti in seine Sequenzen, und zu seiner Ehre sei immerhin gesagt, dass der grossflächig beschreibende Stil für allerlei humoristisch gefärbte Überraschungen sorgt. Das ältliche Ehegespann, das Canetti und seine Frau Veza im oberen Stockwerk beherbergt und sich unterm Tisch verkriecht, wenn fern eine deutsche Bombe kracht; der satyrhaft getriebene Bertrand Russell, der über Gott philosophiert und mit einem schönen Mädchen von dannen zieht; ein schottischer Schlossherr, der den Gast dazu auffordert, einen Edelstein zu taxieren; und immer wieder Partymenschen, vom Kunstsinn gestreift, Wissenschafter mit skurrilen Tendenzen, Militärs und Rassisten, Taugenichtse und Damen des Lektorats.

Die Schauplätze sind London, Amersham, Oxford, Hampstead. Hier fasste der jüngere Canetti Fuss, hier suchte er als Verfasser der «Blendung» die ihm geschuldete Anerkennung; hier fand er - neben der geduldigen Veza - Liebschaften und Affären: ein Mann des starken, bei mangelnder Beachtung dann furiosen und daher auch zu Recht belächelten Selbstbewusstseins. «Moral» - wohl wirklich in Anführungszeichen - ist nach fünfzig Jahren die Quittung des Enttäuschten auf so viel Unbill. Das Buch beginnt mit einem Donnerschlag. Eine «erbärmliche Figur» heisst Canetti den Dichter T. S. Eliot; einen «Wüstling des Nichts», dem es freilich gelungen sei, England und die Welt bis nach Stockholm hinters Licht zu führen. «An dieser Figur hätte ich erkennen müssen, was mit England geschieht.»

Was Canetti damit meint, wird Schritt um Schritt klarer: indem Etappen, Begegnungen, auch Sprachlosigkeiten aus jenen Kriegsjahren memoriert werden. Dass der Kritiker und Schriftsteller William Empson «nicht einen Satz an mich gerichtet hat, der eine Antwort erfordert hätte», macht für die Ouverture des Erinnerungsbuchs ein Menetekel für vieles Weitere. «Man bleibt von allem unberührt und rein» - ist die Pathogenese daraus, dass es der englischen Gesellschaft nicht beschieden war, Canettis Format - frühzeitig - begriffen, umworben und in den geistigen Austausch gezogen zu haben: eine hinterhältige «Blendung» beiderseits, mit den späten Folgen der Abrechnung. Aus den Einzelheiten formiert sich ein Nationalcharakter, und dieser kristallisiert fortan wie ein Gesetz in weiteren Realien des Lebens. Nicht alles daran wäre schief; sogar bringt der Outsider mit seiner kargen, ein wenig ungelenken, ein wenig rhythmusschwachen Prosa einen Schweif von Anekdoten herbei, die für sich selber sprechen: Der überscharfe Beobachter hat sich hinter sie zurückgezogen, es erzählt.

Vielleicht versteht man den Text besser, wenn man ihm einen entscheidenden Subtext unterlegt. Zur Zeit der englischen Jahre - und dann noch länger - arbeitete Canetti an seinem theoretischen Hauptwerk. So schildert er's selber; dass «Masse und Macht» - woraus dem Säkulum eine grundlegende Analyse seiner Wesenszüge erwachsen sollte - sämtliche Energien des Schriftstellers an sich band, der deshalb stets auch darauf erpicht war, mit Anthropologen und Orientalisten, mit Philologen und Mythenforschern ins Gespräch zu kommen. Masse und Macht: Zwar blieb für dieses Thema letztlich ungeklärt, was die Kernthese gewesen wäre - ein Gegeneinander oder, umgekehrt, ein Miteinander der beiden Grössen; das Böse der Macht gegen die «humane» Qualität der Masse; deren Verführbarkeit oder anders deren anarchischer Widerstand. Aber Canetti liess die Sache nicht los, und irgendwie erfuhr er sie nun am eigenen Dasein, nämlich im sozialen Ambiente seiner ausgesetzten Position.

Keiner Gruppe, keinem Verbund von Gleichen zugehörig, ungemütlich isoliert im Milieu der fremden Kultur, auf den Partys ein Seitensteher, ist er hier der Ohnmächtige - mit seinem Ego allein, von wenigsten nur geschätzt. Die Macht wiederum bedient sich der gesellschaftlichen Traditionen und Strukturen: Sie pflegt ihn zu übersehen. Seine Macht dann vermag ihr Kapital ausschliesslich im Stillen zu akkumulieren - der doppelt Verlorene rächt sich, indem er Eindrücke, Erlebnisse, Urteile, Psychogramme speichert, um sie eines ferneren Tages literarisch gegen jene Welt zu kehren. Was er schliesslich Iris Murdoch vorwerfen wird, dass sie alles und jeden belauere, sich einverleibe, verknote und wieder auswerfe in Romanen sonder Zahl, hat er selber mit verwandtem Elan damals vorbereitet. Im Buch wird es vornehmer formuliert: «Meine Haupteigenschaft, die weitaus stärkste, insistierende, die nie ausgesetzt hat, war das Bestehen auf meiner Person . . .» Gewiss; niemals hätten darüber Zweifel geherrscht.

Das Bestehen auf dem Ich: «Dialektisch» tanzt daraus der grelle Maskenball der englischen Gesellschaft hervor; ein nicht selten amüsanter Reigen aus Lords und Mätressen, aus Literaten und Gelehrten. In der Bewegung des Erzählens aber gehen die Konturen allmählich ein in eine schwankende Masse - James Ensor wäre der Maler gewesen, sie auf der Fläche vorgeführt zu haben. - Das schönste Tableau, das Canetti präsentiert, schildert auf drei kurzen, dichten Seiten einen Umgang auf dem Friedhof von Hampstead Church. Endlich hat der Autor seine Obsession wider den Tod für einmal abgelegt, er wandert durch die Reihen, liest die Namen der Steine, meditiert übers Vergängliche, das nun eben sekundenschnell in seine eigene Lebenszeit einschiesst. Und siehe da, die alten, ins Schräge gestauchten, im Boden verwitterten Stelen bezeugen weder Masse noch Macht, sie haben sich ohne Anspruch auf Beachtung und Wert wie zögernd und bescheiden leise ins Individuelle vorgestreckt. Daraus wäre zu lernen gewesen.

 

FRANKFURTER RUNDSCHAU

Dokument erstellt am 15.08.2003 um 16:40:12 Uhr

Elias Canetti. Party im Blitz. Die englischen Jahre. Aus dem Nachlass herausgegeben von Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler. Carl Hanser Verlag, München 2003, 248 Seiten, 17,90 €.

Ein Zett und zwei Nullen

Die englischen Jahre eines Menschensammlers: Elias Canettis fragmentarische Erinnerungen "Party im Blitz"

Von Harry Nutt

Mit der Ausnahme von Lyrik umfasst das Werk Elias Canettis nahezu alle schriftstellerischen Textsorten. Seinem bedeutenden, 1937 abgeschlossenen, Roman Die Blendung ließ er erst 1960 den Riesenessay Masse und Macht folgen. Canetti verfasste drei Theaterstücke, Reiseskizzen, charakterologische Miniaturen, zahlreiche Aufzeichnungen und Aphorismen sowie eine dreibändige Autobiographie. Nicht immer jedoch kann man sich bei Texten Canettis der Gattungsbezeichnung ganz gewiss sein. So erfasst man die Autobiographie wohl am ehesten mit der Bezeichnung Lebensroman, und wer wollte der eigenwillig eklektizistischen Studie Masse und Macht ihre gezielt literarischen Ambitionen bestreiten.

Elias Canetti selbst war es, der die Spur dazu auslegte, dass in Masse und Macht über alles Forscherinteresse hinaus lebensgeschichtliche Aspekte Einlass gefunden haben. In einem Kapitel, das den Dirigenten als Typus des Machthabers skizziert, ist kein anderer als der berühmte Dirigent Hermann Scherchen verborgen, der Canetti einst eine Demütigungserfahrung beigebracht hatte. Elias Canettis Texte folgen einer inneren Verweisungsstrategie, die mindestens so sehr auf Verrätselung aus ist wie auf Aufklärung.

Es spricht einiges dagegen, den soeben als Fragment erschienenen Band Party im Blitz als Fortsetzung der biographischen Romane Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr und Das Augenspiel zu lesen, auch wenn Canetti wiederholt in seinen Texten und Aufzeichnungen geäußert hat, die Autobiographie ursprünglich auf fünf Bände angelegt zu haben.

Canetti dachte, darin ist er ganz der gelernte Chemiker geblieben, der er zunächst war, in Versuchsreihen. Schon der Roman Die Blendung sollte lediglich der erste Teil einer achtbändigen Studie menschlicher Deformation sein. Masse und Macht wiederum war auf zwei Bände angelegt. Canettis Werkplan hatte stets etwas Gigantomanisches, aber am Ende hat man bei keinem Projekt den Eindruck, etwas Abgebrochenes oder Unausgeführtes vor sich zu haben. Man durfte Canetti schon sehr früh unterstellen, dass er darauf aus war, mit seiner Art der Werkankündigung das Interesse auf sich zu lenken.

Im poetologischen Konzept Canettis aber muss die Autobiographie als abgeschlossen betrachtet werden. Sie umfasste absichtsvoll exakt jene Lebensjahre, in denen der Dichter Canetti noch nicht veröffentlicht war. An Zeitgeschichte Interessierten war schon nach der Veröffentlichung des Augenspiels aufgefallen, dass 1937 nicht das historische Datum war, zu dem etwas abgeschlossen werden konnte.

Der Autor Canetti folgte hier einzig der Logik des Mythologen und Textgläubigen in eigener Sache. Wie der chinesische Maler am Ende in seinem Bild verschwindet, trachtete Canetti danach, vollends in seinem Textteppich aufzugehen. Niemand hat wie Canetti so zielbewusst und -strebig an der Verschriftlichung seines Lebens gearbeitet, als dass er aus einer Laune heraus seinen Plan im Alter noch einmal ändern würde.

Party im Blitz ist so gesehen kein Text, der Aufschluss gibt über einen bislang möglicherweise unbekannten Autor Canetti. Größtenteils Anfang der 90er Jahre in drei verschiedenen Textteilen geschrieben, schließt es an die Aufzeichnungen an, die Elias Canetti in großen Abständen veröffentlicht hat. Stilistisch allerdings ähneln die Beschreibungen zahlreicher Begegnungen mit Berühmten und Unbekannten der englischen Gesellschaft dem Text der Autobiographie. In seinen englischen Jahren macht Canetti sich zu allererst zu einem Ohrenzeugen (wie auch jener Band mit Charakterskizzen betitelt ist).

Den großen Bertrand Russel belauert er eher als dass er ihn beschreibt. Auf einer Party wohnt Canetti einem Gespräch Russels mit dem indischen Botschafter in China bei, den Russel durch die Art seiner Befragung die größten Geheimnisse seines Wissens über China entlockt. Der Partygänger wird hier buchstäblich zum Gesellschaftstier, dem die Instinkte mehr nutzen als der Intellekt. Canettis anthropologische Neugier und seine Lust, in den menschlichen Kommunikationsformen die tierische Verwandlungsfähigkeit kenntlich zu machen, ist in diesem Buch, das den nahezu unbekannten Schriftsteller im englischen Exil zeigt, stark ausgeprägt. Dem Menschensammler Canetti geht es dabei weniger darum, seinen Platz im Gedränge der Namen zu behaupten. In dem Fegefeuer der Eitelkeiten, das er bereits in Wien oder Berlin durchschritten hatte, faszinieren Canettis Texte immer wieder auch durch die Errettung der Namenlosen und Unbekannten ins Werk.

Eine der geheimnisvollsten Figuren ist der Straßenkehrer von Chelhem Bois, mit dem Canetti eine ebenso flüchtige wie innige Freundschaft schließt. "Er war vielleicht achtzig Jahre alt und rüstig wie ein Mann von fünfzig. Geistig war er noch jünger, in der Zeit des Fragens, die bei ihm nie enden würde. Er sprach nie zu lang und brach gern plötzlich ab, so als wolle er noch über etwas nachdenken, bevor er das Gespräch fortsetzte. Er knüpfte das nächste Mal nicht sklavisch an das Frühere an, ließ aber wohl merken, dass er sich alles, auch die kleinste Einzelheit, gemerkt hatte. Es gab nichts Überflüssiges in diesen Gesprächen."

Als geübter Canetti-Leser weiß man, dass man derlei Idealisierungen misstrauen sollte, aber gerade in seinen reduktionistischen Miszellen erweist sich noch der betagte Canetti als Skizzenmaler, in dessen Handwerk flüchtige Momentaufnahme und Ewigkeitsentwurf zusammenschießen. Zeitlich umspannt die Party im Blitz nicht nur jene Jahre, in denen Elias Canetti und seine Frau Veza (die in diesem Band eigenartig unscharf bleibt) dem Nazi-Terror entkommen waren. Die englischen Jahre sind darüber hinaus die Zeit, in denen Canettis wichtigstes Werk Masse und Macht Form annimmt. Party im Blitz lässt sich also auch als Werkstattbericht lesen, und auch hier fällt sofort Canettis Begabung auf, Beobachtung und Einfall zu Allgemeingültigem zu verdichten. Seine beinahe soziologischen Bemerkungen über das englische Partywesen, das auf Distanz und Nichtberührung aufgebaut ist, findet sich nahezu ungebrochen in jenem berühmten Eröffnungskapitel von Masse und Macht, in dem Canetti das Umschlagen der Berührungsfurcht als ein kategoriales Merkmal im Zusammenspiel von Masse und Macht analysiert. Im Werkzusammenhang hat Party im Blitz denn auch so etwas wie den Charakter jener Kelleraufnahmen der Basement Tapes, die eine Art nachgetragenen Schlüssel zum Werk des großen Verschlüsslers Bob Dylan darstellen.
Party im Blitz hat darüber hinaus etwas Rohes, Unbearbeitetes. Die letzten Glättungen sind durch den Tod des Autors im Jahre 1994 wohl ausgeblieben. Das wird an keiner Stelle deutlicher als in der Schilderung einer Liaison mit der Schriftstellerin Iris Murdoch. Er ist schonungslos im Umgang mit der Murdoch, aber kaum weniger bloßstellend sind die Passagen für Canetti, der hier jegliche Deckung aufzugeben scheint. ("Am besten weiß ich Bescheid über ihre Beziehung zu einem Dichter, der bin ich").

Erscheint das Paradieren englischer Künstler, Adliger und Politiker hier insgesamt wie das Ensemble einer Zoogesellschaft, die über ihre Instinkte gesteuert wird, so tritt Canetti mit Iris Murdoch in einen nachträglichen Kampf am Futtertrog um dichterische Aufmerksamkeit ein. Indem Canetti treffen will, zeigt er, dass er getroffen worden ist. Die große Kunst des surrender and catch, des abwartenden Belauerns und plötzlichen Zugreifens, die Canettis Gesamtwerk auszeichnet, ist hier preisgegeben. "Man könnte Iris Murdoch das Oxford-Ragout nennen. Alles, was ich am englischen Leben verachte, ist bei ihr gesetzt worden. Man könnte sich vorstellen, dass sie unaufhörlich spricht, als Tutor, und unaufhörlich zuhört: im Pub, im Bett, in Konversationen mit Liebhabern männlichen oder weiblichen Geschlechts. Sie nimmt nichts ganz auf, sie lehnt nichts ganz ab, es bleibt alles bei allem unausgefertigt ungefährlich und tolerabel."

Man kennt Canettis lustvolle Feindschaftsverhältnisse aus der Autobiographie zu Hermann Scherchen, zu Franz Werfel oder zu Brecht. Es sind die Konkurrenzgebärden eines noch nicht anerkannten Dichters gegenüber literarischen Berühmtheiten. Sie alle kann man lesen im Zusammenhang einer Poetologie, die den Dichter als Machthaber begreift, der sich durch seine Werkarchitektur des gewöhnlichen Tötens zur Machtanhäufung enthält. Der Dichter, der der größte Bewunderer ist, besitzt die Fähigkeit, im Werk zu vernichten.

Die nachhaltige Feindschaft gegen die Murdoch aber ist geprägt von sexueller Kränkung. Hier schlummert im Gegensatz zu hinreichend bekannten Arrangeurskunst Canettis die Kraft einer Verstörung. Party im Blitz ist deshalb keineswegs ein Buch für die Kader fortgeschrittener Canetti-Leser. Seine große Kunst der Selbstmythologisierung aber erlebt hier seinen Maskensprung.
 

WIENER ZEITUNG

5-9-2003

Canetti: Party im Blitz

Unfreiwilliges Selbstporträt/ Von Evelyne Polt-Heinzl

Elias Canetti: Party im Blitz. Die englischen Jahre. Hanser 2003, 247 Seiten.

Der erste Reflex be der mühseligen Lektüre von Elias Canettis Aufzeichnungen über seine Jahre im englischen Exil ist Ärger. Der Band wirkt inhomogen, voller sprachlicher Holprigkeiten und grammatikalischer Verwirrungen, die Vielzahl von Neuanläufen führt zu langweiligen Redundanzen und Verlegenheitsübergängen im Schulaufsatzstil ("Bevor ich schildere . . . will ich illustrieren"). Das ist durchaus verständlich. Die 1990 bis 1994 im Rückblick entstandenen Skizzen liegen in vier Manuskriptfragmenten vor und wurden von Canetti deutlich als "vorläufige, ungeordnete Niederschrift" gekennzeichnet. Dass sie nun, vom Herausgeber Kristian Wachinger in eine - nicht wirklich sichtbare - "logische Reihenfolge" gebracht, veröffentlicht werden, ist kein Dienst am Autor und Stilisten Elias Canetti.

Von der Feinheit und Finesse, mit der Canetti in seiner dreibändigen Autobiografie Zeitbefindlichkeiten und Figurenporträts zu inszenieren verstand, ist in diesen späten Reflexionen über das Gastland Großbritannien wenig zu spüren. Das liegt nicht an der unverhohlenen Bösartigkeit, mit der er Szenen und Personen ins Bild rückt; die ist - vor allem aus dem letzten Band "Das Augenspiel" (1985) - gut bekannt. Hier aber verflacht die wache Bösartigkeit zu solipsistischer, rachsüchtiger Gehässigkeit, und es wird über zweihundert Seiten hinweg fast nichts anderes sichtbar als die charakterliche Disposition des Autors selbst. Canetti versagt hier als Mentalitätshistoriker ebenso wie als Menschenbeobachter. Übrig bleibt eine Selbstentblößung, die frühe Urteile von der "monumentalen Eitelkeit" und den "unverständlichen Ressentiments" (Hilde Spiel) dieses rücksichtslosen "Sammlers von Menschentypen" (Eduard März) nachträglich bestätigt.
Zu Recht wurden in fast allen Besprechungen die ungezügelten und letztlich hohlen Hasstiraden kritisiert, etwa gegen T. S. Eliot, den "Wüstling des Nichts", dessen größter Fehler für Canetti es wohl war, lange Jahre vor ihm den Literaturnobelpreis erhalten zu haben. Besonderen Unmut erregte Canettis radikale "körperliche, intellektuelle, künstlerische und charakterliche Vernichtung" ("Neue Zürcher Zeitung") seiner langjährigen Geliebten, der selbstbewussten und erfolgreichen Autorin Iris Murdoch. So gesehen kommen jene Frauen, die nur am Rande erwähnt werden, wie Friedl Benedikt, Anna Mahler, Marie-Louise von Motesiczky und auch Veza Canetti noch gut weg. Doch das Anstößigste ist keineswegs die brutale "Hinrichtung" Iris Murdochs. Die ist in ihrer bodenlosen Rachsucht so selbstentlarvend, dass kein Makel auf die Gescholtene fällt, die zudem in ihrer eigenen Sicht der Dinge schon lange alles zurechtgerückt hat.
Schlimmer sind die kleinen Abschlachtungen am Rande, die ebenso leicht zu überlesen sind, wie Canetti zeitlebens wollte, dass die Abgeschlachteten übersehen werden sollen.

In mehreren kleinen Szenen beschreibt er etwa, wie Veza "krampfhaft" versucht, das Wohlwollen einer der berühmten Persönlichkeiten zu erlangen, mit der er sie, selten genug, bekannt macht. Denn Veza, so berichtet zumindest Elias, ging nicht gern auf jene Parties, die ihn so nachhaltig verstörten und dem "englischen Wesen" entfremdeten.
Doch die "Trostlosigkeit auf Parties", die Canetti lamentierend beklagt, hat einen ganz simplen Grund: Es kannte ihn dort niemand, 1938 gab es nur ein Buch von ihm und das nur auf Deutsch. "Wer nicht vorher schon bekannt war, konnte es auch nachher nicht sein. Gespräche änderten daran nichts." Das ist eine leidvolle Erfahrung, die er mit vielen Emigranten teilt. Doch Canetti versteigt sich aus dieser Empörung über die Missachtung seiner Person zur Behauptung, "dass Engländer unter allen Kulturnationen die sind, die Ausländer am innigsten ablehnen". Folgerichtig geraten auch seine Skizzen über jene Personen, die ihn in diesen Jahren unterstützt und gefördert haben, wie die Schriftstellerin Kathleen Raine oder die Übersetzerin Veronica Wedgwood, mehr zu Abrechnungen denn zu Hommagen. "Ich kann nur persönliche Züge von ihr verzeichnen", heißt es mit einem Freudschen Verschreiber über Veronica Wedgwood, und tatsächlich bleibt ihr einziger Bonus in Canettis wenig schmeichelhafter Beschreibung die Tatsache, dass sie "die erste Engländerin" war, "die sich mit Begeisterung und Überzeugung für die 'Blendung' eingesetzt hat".
Wenn Canetti Distanz als "eine Hauptübung der Engländer" charakterisiert, ist das zwar keine große ethnografische Entdeckung, doch entstehen daraus einige der gelungensten Passagen des Bandes. Dazu gehören das Bild Bertrand Russells als meckernd lachendem Greis, Oskar Kokoschkas Vorführung seiner Alma Mahler geschenkten Fächer, und auch die titelgebende Szene: Während einer Party im Haus des Kunstmäzens Roland Penrose, mitten im Luftkrieg gegen Deutschland, dringen Feuerwehrmänner stumm ins Haus ein, um Sandkübel für die getroffenen Häuser in der Nachbarschaft zu holen, während das Partygeschehen munter und kommentarlos weitergeht.
Momente wie diese, in denen Canettis Fähigkeit zu Groteske und Zuspitzung aufblitzt, sind insgesamt spärlich. Als wohl unfreiwilliges Selbstporträt im Spiegel der literarischen Vernichtung von Lebensmenschen ist der Band dennoch eine lohnende Lektüre.

In Kürze
Unter dem Titel "Gutgeheißenes und Quergeschriebenes" veröffentlicht der Schriftsteller und Jurist Janko Ferk Aufsätze und Rezensionen über hauptsächlich österreichische Literaten, wie u. a. Christoph Wilhelm Aigner, Bettina Balàka, Helmut Eisendle, Lilian Faschinger und Josef Winkler (Hermagoras Verlag 2003, 103 Seiten).

 

Berliner Zeitung

 Donnerstag, 29. Januar 2004

Nichtberührungsfeste

Elias Canetti blickt in den Aufzeichnungen "Party im Blitz" auf seine Jahre in England zurück
VON MARTIN EBEL

Die Berührungsfurcht steht am Anfang von Elias Canettis Hauptwerk "Masse und Macht". Wenn diese dem Menschen eigentümliche Furcht in ihr Gegenteil umschlägt, bildet sich die Masse, jenes Phänomen, das ihn so ungeheuer faszinierte und das er nicht aufhören konnte zu ergründen.

Berührungsfurcht, lehrt Canetti, ist universal. Nirgendwo aber hat er sie so ausgeprägt gefunden wie in England. Und die Institution, wo sich diese englische Eigenart am besten studieren lässt, ist die Party. "Nichtberührungsfeste" nennt er diese geselligen Veranstaltungen. Wenn er sie schildert, schwankt er zwischen dem nüchternen Blick des Ethnologen und wütender Gekränktheit: "Ich habe mich nie unglücklicher gefühlt als bei solchen Einladungen".

Die von den Engländern zur Perfektion getriebene Kunst der Nichtberührung bestehe darin, keine wirklichen Gespräche aufkommen zu lassen, kein Interesse für einen anderen Gast zu zeigen und von sich selbst möglichst wenig preiszugeben, am besten nicht einmal den Namen. Hier stößt Unvereinbares zusammen: Canettis Leidenschaft, dem anderen zuzuhören, ihn regelrecht in sich einzusaugen, ihn ganz zu vereinnahmen (um sich dann umso klarer abgrenzen zu können), und die englische Unverbindlichkeit. Schwer erträglich ist die delikate Situation des Emigranten, der als Schriftsteller unbekannt, aber von seiner Bedeutung und der des entstehenden Hauptwerkes überaus überzeugt war. Das ausgeprägte Selbstbewusstsein Canettis, gepaart mit ebenso ausgeprägter Empfindlichkeit, registrierte die besondere Form englischer Herablassung mit äußerster Schärfe.

War Canetti also unglücklich auf der Insel, die er von 1939 bis in die späten 80er-Jahre (dann im Wechsel mit Zürich) bewohnte? Durchaus nicht. Zum einen stand das Gesellschaftliche in dieser Lebensphase für ihn nicht im Mittelpunkt. "Vom ersten Tag in England an war es mein Ziel gewesen, mich ausschließlich der Arbeit an Masse und Macht zuzuwenden. Ich wollte mir alles versagen, was mich ablenken konnte." Tatsächlich widmete sich Canetti zwanzig Jahre lang fast ausschließlich diesem Projekt, trieb historische, ethnologische, literarische, mythologische Studien und vor allem seine Gedanken mit gründlicher Konsequenz voran.

Er tat dies unter miserablen materiellen, aber offenbar beflügelnden psychischen Bedingungen: Die Kaltblütigkeit der Engländer, die eine Zeit lang ganz allein gegen das übermächtige Großdeutsche Reich standen, imponierte Canetti ebenso wie die Atmosphäre geistiger Freiheit. Ersteres stärkte seine eigene Widerstandskraft, Letzteres entsprach seinem eigenen unbändigen Freiheitsdrang.

Der nur fragmentarisch überlieferte Text enthält neben den Betrachtungen über englische Geselligkeit und Zivilcourage vor allem Porträts - und setzt damit die Reihe der Bände "Die gerettete Zunge", "Die Fackel im Ohr" und "Das Augenspiel" fort - ohne sie allerdings zu erreichen, wie bei einem unfertig hinterlassenen Manuskript nicht anders zu erwarten.

Es finden sich glänzende Charakterstudien - des Universalgelehrten Bertrand Russell, des Malers Oskar Kokoschka, des Komponisten Ralph Vaughan Williams, des Sinologen Arthur Waley; aber auch seinem Hauswirt, einem klugen Straßenkehrer oder einem Geistlichen, der so gut wie alle Sekten durchwandert hat und bei Luftalarm unter den Küchentisch kriecht, gilt des Autors geduldige Aufmerksamkeit. Fasziniert zeigt sich Canetti auch von dem, was ihm widerstrebt, etwa dem rechtspopulistischen Politiker Enoch Powell, einer Verkörperung des "Willens zur Macht".

Abneigung trübt ihm nie den Blick, gibt aber seiner Feder manchmal einen kräftigen Ausschlag. Geradezu Wellen von Aggression überrollen, auch mit einem halben Jahrhundert Abstand, den Nobelpreisträger T. S. Eliot ("abgrundschlecht", seine Stücke "impotent").

Noch schärfer rechnet er mit der Dichterin Iris Murdoch ab, mit der ihn doch ein mehrjähriges Liebesverhältnis verbunden hat. Sie wird als Person und Autorin in diesen Erinnerungen geradezu vernichtet: Ihre "vierundzwanzig Romane" bestehen aus "Oxford-Geschwätz"; die Männer, mit denen sie Affären hat, beutet sie literarisch aus, als "eine Art Gesamt-Parasit aus Oxford"; als Dichterin ist sie "illegitim". Sexuell, darauf legt Canetti Wert, übernahm sie immer die Initiative, während es für ihn "eine peinlich einseitige Geschichte (blieb), die ich gegen meine Neigung hinnahm und unbeteiligt beobachtete". Unbeteiligt? Die Aggressionen, die diese Zeilen durchziehen, strafen den Autor Lügen. Dem oftmals peinlich berührten Leser bleibt nur, hier seinerseits Distanz zu Canetti einzunehmen, was ja durchaus im Sinne des großen Selbstdenkers wäre.

Zum eigenen Denken, zum Gedankengebäude von "Masse und Macht" hatte Canetti einst durch Abgrenzung von Sigmund Freud gefunden. Die Psychoanalyse ist ihm auch in der (ganz unmilden) Rückschau des Alters ein Gräuel: Keine Sorte Menschen verachtet er mehr, denn Analytiker hören nicht wirklich zu, was der Patient zu sagen hat, weil sie es schon vorher wissen.

"Party im Blitz", in den Jahren 1990 bis 1993 verfasst, ist das Manuskript eines sehr alten Mannes, zudem ein unfertiger Text, in dieser Form nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Neben vielen Seiten mit bestem Canetti gibt es andere, deren vorläufiger Charakter unübersehbar ist. Aber gerade die Unvollkommenheiten bieten auch eine Chance: einen Blick zu tun auf die Verfertigung der Gedanken, noch bevor sie die prüfende, zensierende, ästhetisch vollendende letzte Instanz passiert haben. Hier ist der Affekt noch nicht gebändigt, der Eindruck noch nicht objektiviert. Der Meister lässt sich ungewollt in die Karten schauen, und wir sehen tatsächlich einen Canetti, wie wir ihn noch nicht kannten.

 

(33/2003)

 

Einseitige Liaison

Mitten im Krieg, vor nunmehr 60 Jahren, war England noch ein Hort des freien Geistes: Die Eisenbahnen fuhren pünktlich, und die Menschen blieben so tapfer im Ertragen aller Unbill, so höflich und gelassen, wie Engländer eben sind. Jahrzehnte später jedoch, nach der Thatcher-Herrschaft, sind Britanniens "beste Institutionen" erschüttert, "die das Vorbild der Welt waren", und "aus sich, aus sich selbst geht dieses Land zugrunde". So empfand es Elias Canetti, der gebürtige Bulgare, gelernte Wiener und deutschsprachige Nobelpreisträger, berühmt geworden durch Bücher über Kafka, über "Masse und Macht" und eine dreibändige Autobiografie. Einzig sein Roman "Die Blendung" (1936) war schon erschienen, als der Schriftsteller jüdischer Herkunft mit seiner Frau Veza 1938 nach London emigrierte.

Aus dem Nachlass des Autors sind jetzt die Notizen der englischen Jahre publiziert worden, die Canetti (1905 bis 1994) selbst nicht mehr zu einem Ganzen überarbeitete: "Party im Blitz". Nur selten freilich finden sich jene luziden Beobachtungen, deren subtile Formulierung Canetti-Enthusiasten die gewohnte Freude macht; selbst Banales wird des Öfteren wiederholt. Canetti zeigt sich als ein Mensch von enormem Selbstbewusstsein und leicht kränkbarer Eitelkeit, dem anderer Leute Ruhm (wie der des Kollegen T. S. Eliot, "dieser erbärmlichen Figur", "dünnlippig, kaltherzig, frühalt") schwer zu schaffen macht. So liest sich "Party im Blitz" als Anhäufung von Sottisen mit der Tendenz zur Schmähung; die meisten der so Porträtierten sind zudem in Deutschland unbekannt. Eine Ausnahme ist hier die Dichterin und Philosophin Iris Murdoch, eine ehemalige Geliebte Canettis, für ihn ein "Oxford-Ragout". Die Liaison mit der 14 Jahre Jüngeren war "eine peinlich einseitige Geschichte, die ich gegen meine Neigung hinnahm und unbeteiligt beobachtete" ­ der arme, kleine Mann ist praktisch vergewaltigt worden. Ob die Kollegin Murdoch das auch so gesehen hat? Aber noch freier, als die Gedanken es sind, ist freilich das Gedächtnis.

 

 

  L I T E R A T U R H A U S

                                                                     WIEN

   

Elias Canetti

Party im Blitz.
Die englischen Jahre.
Herausgegeben aus dem Nachlaß von Kristian Wachinger.
Nachwort von Jeremy Adler.
München, Wien: Hanser.
248 S.; geb.; Eur[A] 18,40.
ISBN 3-446-20350-8.

Für den noch jungen Elias Canetti, er ist Anfang dreißig, bedeuten die englischen Jahre Kriegsjahre und Jahre der Emigration. 1938 gelingt ihm mit seiner Frau Veza die Ausreise in das Land, in dem er schon als Kind einige Jahre mit seinem Vater verbracht hat.
In London versucht Canetti, der zeitlebens von Künstlerzirkeln magisch angezogen wird, Eintritt in die Kreise der Hampstead intellectuals zu erlangen. Im Gepäck hat er die "Blendung" (1935), seinen ersten Roman, den jedoch außer einer Handvoll Emigranten, wie er selbst einer ist, kaum jemand gelesen hat. So wird er ein mit britischem Inselhochmut geduldeter Noname, der sich aufs Zuhören verlegt und interessante Köpfe sammelt, um mit heimlich sezierendem Blick an einer Menschenmenagerie zu feilen.

Viel später wird er für diese Gabe den Nobelpreis bekommen und die dreibändigen Lebenserinnerungen ("Die gerettete Zunge", 1977, "Die Fackel im Ohr", 1980, und "Das Augenspiel", 1985) werden zu Recht Weltruhm erlangen.

Vorerst herrscht aber noch Krieg, Canetti geht auf Londoner Künstlerparties, am liebsten ohne seine Frau, und beobachtet. Darüber scheint er den Krieg fast zu vergessen. In seinen Englandaufzeichnungen kommt dieser jedenfalls nur am Rande vor. Er wolle sich mit seiner Niederschrift vom Überfluss an britischen Figuren befreien, sagt er Jahrzehnte später. Also erinnert er sich an Künstlerbekanntschaften, zeichnet manche fesselnd, andere weniger spannend, während vom Himmel die Bomben fallen und Hitler in Paris einmarschiert. Selbst die eigenen Lebensumstände, die finanziellen Engpässe, unter denen er und Veza nachweislich gelitten haben, sind ihm keine Erwähnung wert. Die Evakuierung aus London in der kritischsten Zeit des Krieges verkümmert sogar anekdotisch zu einem bizarren Landurlaub - und doch ist Canetti in diesen Jahren intensiv damit beschäftigt, die Schrecken der Zeit in sein philosophisches Hauptwerk "Masse und Macht" zu destillieren. Mag es ein weiteres Schlaglicht auf seine komplizierte Persönlichkeit werfen, dass er in einem Nebensatz erklärt, er habe beschlossen, für die Dauer des Krieges nicht zu publizieren, und sich auch das Schreiben literarischer Texte verboten ... um den Krieg durch schmerzhaften Verzicht zu bannen? Wer weiß.

Canetti war sich jedenfalls der Skizzenhaftigkeit seiner Englanderinnerungen bewusst, denn über das zentrale Textfragment, das für die vorliegende Ausgabe herangezogen wurde, hat er geschrieben: "Aus England - vorläufige, ungeordnete Niederschrift (in dieser Form nicht zu veröffentlichen)", aber Herausgeber, Verleger und Erben finden bekanntlich immer ausreichend Gründe, um sich über derlei Kleinigkeiten hinweg zu setzen.

Entstanden sind die Texte erst kurz vor Canettis Tod, zwischen 1990 und 1993, und sie lassen tatsächlich die klassische Form- und Stilsicherheit der großen dreibändigen Autobiografie vermissen. Dem Buch fehlt aber auch die Unmittelbarkeit und Leidenschaftlichkeit, mit der der Autor noch in "Über den Tod" (2003, ebenfalls postum erschienen) gegen das Ende anschreibt.

Grob und ungeschlacht wirken einige Passagen, wie mit dem Holzhammer zurecht gehauen, und so manches Porträt ist ihm verwischt. In einigen seltenen Momenten ist Canetti sogar schreiend bösartig. So stürzt er sich mit unvermuteter Häme und plötzlich aufplatzendem Geifer auf T. S. Eliot. "Abgrundschlecht" nennt er ihn und seine Stücke "impotent". Ähnlich springt er mit Iris Murdoch um, selbst Menschensammlerin. Einen "illegitimen Dichter" nennt er sie und rühmt sich im selben Atemzug ihrer mehrjährigen Affäre. Am meisten jedoch gerät sein spaniolisches Blut angesichts britischer Gefühlskälte und des indigenen Hochmuts der einstigen Empire-Eroberer in Wallung.

Gegen Schluss heißt es dann hellsichtig: "Der Zufall deiner englischen Begegnungen. Das wäre gut. Aber es ist in soviel Jahren etwas anderes daraus geworden: eine Hierarchie, von deinen Abneigungen und Kränkungen abhängig, was wird das für ein unzulässiges, verkehrtes Bild eines Landes geben, ..."

Anne Zauner                              

28. Jänner 2004                         

 

The God-monster's version

Elias Canetti was a remarkable writer, but he was recently vilified for his treatment of his former lover Iris Murdoch. Now, his newly published diaries may restore his reputation, writes Julian Preece

Saturday February 7, 2004
The Guardian


When Elias Canetti, 1981 Nobel Prize winner, died in August 1994 at 89, he stipulated in his will that his papers could not be seen for 30 years. Whether this was to protect the living from embarrassment or from an old-fashioned sense of decorum, so suspicious to our kiss-and-tell age, we shall have to wait and see.

A biography is due to appear on his centenary in 2005. But this most elusive of 20th-century writers certainly had a reputation for secretiveness. He used to boast that his diaries were written in code and acquaintances from his London days remember how he would pretend to be a Chinese cook or an upper-class Englishwoman when answering the phone. Close friends knew they had to ring a certain number of times, replace the receiver and phone again for him to answer as himself.

Despite the interdicts in his will, Johanna Canetti, his heir and daughter from his second marriage, has decided that his London diary ("From England", as he called it) could after all be released before 2024. It has been published in Germany under the title Party im Blitz. He wrote it in the early 1990s, working presumably from contemporary notes now under lock and key in the Zurich Zentralbibliothek, largely dictating to his 20-year-old daughter.

In its occasional candour it is like nothing he published in his lifetime. He chronicles his encounters with literary and public figures with the intention of giving a picture of England "in the middle years of the century". Canetti's chapter on his lover for three years from 1953 challenges recent portraits of both of them.

After the battle for the memory of "Iris" began when her husband John Bayley published his first memoir five years ago, Canetti's own reputation in this country has suffered. David Aaronovitch recently announced in the Observer that he would cross both Auto-da-Fé and Crowds and Power off the list of books that he wanted to read. All because Bayley had disclosed how Canetti's wife Veza would be "sometimes present in the flat when 'the Dichter' made love to Iris, possessing her as if he were a god", which is hardly a reason to take against the Dichter's books. Bayley himself calls his immediate predecessor for his wife's affections "the primal power figure. Iris's one-time lover, tyrant, dominator and master. Teacher too, and inspiration. The great all-knowing Dichter."

His name was the last Murdoch recognised two months before she died. According to her biographer, Peter Conradi, the "god-monster of Hampstead" "represented the artist-as-manipulative-and-sadistic-mythomaniac" in her imagination and was a cruel and controlling lover, who dominated a coterie of enthralled "disciples" and mistresses, which is a role he re-enacts in several of Murdoch's early novels - she dedicated her second, The Flight from the Enchanter (1956), to him. But what neither Bayley nor Conradi could have known was that Canetti had taken steps to get his retaliation in first: his account of their affair was written before Murdoch was stricken with Alzheimer's.

On first reading, the chapter "Iris Murdoch" appears acerbic, catty even. Jeremy Adler, who supplies excellent notes and an afterword to this posthumous volume, will not convince everyone that Canetti really respected Murdoch still and that this great diatribe is necessary for the book's moral and aesthetic coherence as autobiographical satire. Canetti expresses revulsion at what Murdoch became as a philosopher and novelist, for her narrow range of Oxford-educated characters, though he concedes that her writing could be amusing.

Looking back at their affair, he claims it was Murdoch who pursued him, ready to be seduced shortly after the death of her fiancé and Canetti's best friend, the émigré poet and anthropologist Franz Baermann Steiner, through whom they had met. Once they had become lovers Murdoch would precisely time her visits from Oxford, fitting in Canetti as if for a tutorial. The sex could hardly be more different from her own accounts of power and dominance. "She lay motionless and unchanging, I hardly noticed that I entered her, I did not sense that she noticed. Perhaps I would have been more likely to have sensed something if she had moved a little in response."

Yet it seems that for all his alleged attempts at control, she used him just as much. She needed ideas and characters for her novels and she gets this "booty" from her many and varied lovers ("each one a specialist in his field... a theologian, an economist, an ancient historian, a literary critic, an anthropologist, but also a philosopher, a poet"). She exchanged sex for one-sided conversation: for whatever her other shortcomings, Canetti testifies that Murdoch was a passionate listener. He both liked and attracted listeners and he listened with passion to others himself.

After they first made love Murdoch confided that she had imagined him to be an Oriental pirate who held her captive in a cave before ravishing her: "She wanted to see me as a robber who forced her brutally to make love, she did not become excited until she could imagine this Oriental pirate to herself." The admission amuses him at first, it must have been, he says, his account of his childhood in the Ottoman Balkans which inspired her fantasy. But his amusement is short-lived and he finds "every way to love was blocked for me by her dream". Soon he sees her as a pirate who robs each of her lovers not of his heart, but of his mind.

This casts in a new light those controlling and sexually alluring Magi-figures who stand at the centre of some of Murdoch's novels and who Canetti is said to have inspired. Is not the point about Mischa Fox in The Flight from the Enchanter that he is what those enthralled by him want to make him in their minds? Honor Klein in A Severed Head (1961) is ultimately a pathetic figure, the repeated descriptions of her Jewish features, complete with "tawny" breasts, close to caricature, which is perhaps why Canetti recalls with such distaste at the way in which Murdoch exoticised him.

Canetti, as everyone called him, and his wife Veza lived in proud and not-so-genteel poverty after arriving from Nazi-run Vienna in the aftermath of the Kristallnacht in January 1939. Even offering them a cooked meal in the days of war-time austerity could cause him to take offence. Yet the British were not always the most accommodating hosts and the Canettis not always willing to be grateful.

One of Veza's stories, finally published after 60 years in 2001, is about a country vicar and his wife who take in a poor London refugee couple during the Blitz. Each morning the Reverend and Mrs Toogood carry their excrement to the garden on newspaper to make compost. While they continue to eat well, their houseguests are given half-rotten vegetables cooked in nothing but water, a culinary failing which seems to offend the story's narrator nearly as much as the black worms she finds sharing her meal one day. "The principle of this retired clergyman was that if the empire admits these god-forsaken people and if I even take them into my house, then these refugees are to show gratitude to me for England's generosity, and they are to bring me as much benefit as possible." In Party im Blitz, Canetti is more charitable to their vegetarian, tee-total hosts in Chesham Bois: Mr Milburn at least shared a passion for books.

Both Canettis were Sephardic Jews, one half of her family from Sarajevo, both of his from Bulgaria, where he spent his first six years speaking Ladino, the medieval Spanish the Jews had taken to the Ottoman empire after expulsion from Spain. Leaving Vienna broke Veza's heart and she never returned. After her literary career had been cut short by the right-wing coup in February 1934, when the Arbeiter-Zeitung which had printed her stories was closed down, she tried in vain to interest British publishers in her work.

Her husband, author of the still unsung pre-war masterpiece Die Blendung or Auto-da-Fé (1935), was reluctant to write for publishers because he feared it would compromise his commitment to truth. He vowed also not to publish a word until he had completed his book-length essay Crowds and Power (1960), which was to be his reckoning with the forces that had driven him from the continent. One reason he lived in obscurity was that he wanted his work to last. Like fellow refugee, Norbert Elias, the great cultural historian who was almost un-known until his 70s, Canetti wrote in German, the language of culture for anyone born within the orbit of the Habsburgs. Only slowly, and after Veza's death in 1963, did he begin to make his name in either the German- or English-speaking worlds.

There was one very obvious drawback to Canetti's purist approach to the written word: nobody in the London literary circles he penetrated with such apparent ease had heard of him. The only Englishman who had read Die Blendung was the Sinologist Arthur Waley: "Imagine what it means in a large country, which for me was the country of Shakespeare and Dickens, to have one single reader."

Few émigrés had it much better - and there were many who arrived with higher reputations. Being a nobody at social gatherings irked him, but he, the great listener and observer, sometimes unwittingly reciprocated others' ignorance of him. He seems unaware that his Hampstead neighbour, Sheffield English professor William Empson, with whom he would have loved to talk about mass crowds in China, had been famously cold-shouldered by Cambridge, which was why he taught in such outlandish places as China and Sheffield in the first place.

Canetti ultimately created an oeuvre that is more individualist, more eccentric perhaps, in some ways more original, than that of any of the other great 20th-century modernists from central Europe. His one novel (Die Blendung or The Bedazzlement, rather than Auto-da-Fé in the published English translation) was written in his mid-20s in pre-Hitler Vienna. It is a monstrous but brutally funny book, which holds up the mirror to the hateful set of mentalities that were to breed National Socialism and does so with a ruthless single-mindedness some find difficult to bear.

John Bayley recalls how Canetti, rarely given to false modesty, compared its effect on readers to that of King Lear. The novel's hatefulness was not within its author, as readers to this day sometimes assume, but in the world out there whose folly he diagnosed. He then turned to other genres. First plays (The Marriage and The Comedy of Vanity in the 1930s, Their Days are Numbered, premiered at the Oxford Playhouse in 1956), then a travelogue (The Voices of Marrakesh), books of aphorisms and reflections, Aufzeichnungen or Sketches, and Ear Witness: Fifty Characters, modelled on Theophrastus and La Bruyère.

The switch from the novel and the reasons for it were to inspire another exile to these shores, who insisted on calling his writings "prose fiction", which sometimes baffled the non-conceptual British. WG Sebald, though nearly 40 years younger, was captivated by some of Canetti's mid-century themes.

The class system itself and the elite who ran it are subjects of unceasing fascination to this connoisseur of power. He became a close friend of Aymer Maxwell (Bart) and was introduced to politicians by Diana Spearman. Only rarely did he feel unwanted on account of being a foreigner; never, more amazingly, did he personally experience a hint of anti-semitic feelings. "Should any such have existed, which I can hardly believe, then Einstein and Freud had put paid to them. The renown of these men in the Anglo-Saxon world is not properly recognised by anyone. They are thought of as cultural heroes, benefactors of humanity."

Be that as it may, Canetti hated TS Eliot, whose poetry and reputation were indicative of all that had become wrong with England since the centuries of its cultural glory: "I was witness to the fame of someone like Eliot. Will they ever be ashamed enough of themselves for that?" His anti-Eliot diatribe, which might make even Tom Paulin blanch, is a rhetorical set-piece, a prose poem of invective. I can give just a taste: for his fellow émigré Eliot's "impotence, which he communicates to the whole country, surrenders itself to every order which is old enough, seeks to prevent every enthusiasm, a debauchee of nothingness, pale imitator of Hegel, desecrator of Dante (to which region of Hell would Dante have consigned him?), thin-lipped, cold-hearted, old before his time".

On the other hand, left-winger though Canetti was, he professes a liking for an ambitious young Tory MP, who had already been made a professor at the age of 26. Only Enoch Powell quoted Nietzsche in fluent German or showed emotion in public. When asked for his views on Indian independence, Powell stopped demonstratively in the street and, beating his fist against his heart, cried: "I feel it here, here."

Canetti was also amazed at how even in the darkest days of the war Aneurin Bevan lambasted the prime minister in Parliament. Parliament is one British institution that earned his unreserved respect, Hyde Park Corner one of his first and regular ports of call. He recognises in Crowds and Power how parliamentary rituals were civilised forms of power play, which in continental Europe were being performed in their original and bloody form.

He loved other aspects of English life, like upper-class women, who, he observed, were often extremely beautiful: they needed to be as their function was to enhance the power displays of famous men. With stunned admiration Canetti observes at a Mayfair reception how the octogenarian Bertrand Russell walks off with one such beauty a quarter of his age moments after he had finished a public conversation and, laughing with joy, clapped eyes on her for the first time: "As if they had arranged to meet, the 80-year-old and the 20-year-old, he left the party with her as if it were the most natural thing to do. He carried on laughing as he made his departure and she seemed more beautiful with every step."

Apart from Iris Murdoch, Canetti had other girlfriends, often concurrently it would seem, and he clearly enjoyed female company. He seems to have been loyal to them, though clearly not faithful, and the creative influences are by no means all one way. Adler, who through his father knew both Canettis, insists that his wife was no doormat: "Veza with her sharp tongue and her sense of humour could keep Canetti in check and poke fun at his idées fixes." Anna Mahler, daughter of the composer, dumped him in 1933 but remained part of the same social set in London exile. Marie-Louise Motesiczky, an Expressionist painter and pupil of Max Beckmann, was intimate with him for half a century, painting several personally telling portraits, just as Murdoch and Veza put him into their fiction.

Yet some comments in Party im Blitz will do little to dispel Canetti's reputation for high-handed treatment of women. He is condescending about Kathleen Raine who was kind about him in her memoirs, though without remotely getting his measure, which is perhaps what irritated him. He is also somewhat ungracious to Veronica Wedgwood, translator of Auto-da-Fé, not just because she turned to Thatcherism in her dotage but for her unoriginality as an historian.

His excoriation of Britain's first woman prime minister, die Gouvernante (the governess), who sealed the nation's decline from greatness, is not free from old-fashioned sexism. Yet if Brecht, whom he met and disliked in Berlin in the late 1920s, surrounded himself with female co-workers who were also his lovers, Canetti courted women who were fellow writers or artists. If he recognised too much of himself in the domineering young Brecht, his portrait of him in The Torch in my Ear (1980) could be a form of self-caricature.

Canetti's most unusual relationship was probably with Friedl Benedikt, who published three novels in English as Anna Sebastian before her death from Hodgkins disease at 36. As she lay dying, Murdoch took over Benedikt's role as mistress-novelist, just as Canetti replaced Steiner for her. His "pupil" from the age of 19, Benedikt was from a rich and distinguished Viennese family. In The Play of the Eyes (1985) Canetti recalls how she followed him like a love-struck teenager once she had identified her new neighbour in Grinzing, Vienna, as the author of Die Blendung. She wanted him to teach her to write and when Veza persuaded him to read 50 pages she had passed to her, he thought she had copied it from an unknown novel by Dostoyevsky - a hint maybe that as a more mature writer she would never emerge from his shadow.

She followed the Canettis to London, where a wealthy cousin lived on Hampstead's Downshire Hill, and is portrayed in Veza's autobiographical novel, The Tortoises (1999). She kept a diary for her teacher and let him impress other men with the "absoluteness of her devotion". Yet whatever he privately thought of her talent, it was Benedikt who found herself a publisher and she too who introduced him to Wedgwood, who made sure his own novel got published in English.

Canetti claims all three of Benedikt's novels were dedicated to him, but only two mention him by name, the other (The Monster) is "to Orion", the giant hunter from classical mythology who was slain by Diana, goddess of hunting and chastity. The women artists Canetti knew seem to have given as good as they got, either in life or in their work.

· Julian Preece is Reader in German and Comparative Literary Studies at the University of Kent. Party im Blitz: Die englischen Jahre (Hanser, September 2003) will be published by Harvill in 2005 in a translation by Michael Hoffmann.

 

  

Iris's lover takes his posthumous revenge

Newly published memoirs of Nobel Prize-winning author Elias Canetti contain devastating attack on Iris Murdoch

By David Brierley

22 February 2004

She is regarded as one of the most accomplished writers of post-war Britain. Hundreds of thousands of fans still buy and borrow her novels. The touching tale of her life with her husband John Bayley, her descent into ill-health and her eventual death five years ago in the film Iris only served to strengthen her standing.

But Elias Canetti, the Nobel Prize-winning writer who shared tender moments with Iris Murdoch as her lover, has savaged her in newly published posthumous memoirs, in which he rubbishes her writing, her intellect and even her love-making.

Her husband's memoirs lifted the lid on their relationship, but Canetti's memoirs are altogether more vituperative. Canetti and Murdoch became lovers in 1953, the year before she met Bayley, now a retired professor of English at Oxford University. Their three-year relationship was one of the most influential in her life and she drew on Canetti for some of her most memorable characters in novels such as the Booker Prize-winning The Sea, The Sea. Mischa Fox in The Flight From The Enchanter, which was dedicated to Canetti, and Julius King in A Fairly Honorable Defeat also lean heavily on him. Intriguingly, those characters are manipulative and destructive forces, which may say something about the way Murdoch saw Canetti.

It is thought that Canetti, who died in 1994, helped to launch Murdoch's career by anonymously submitting the manuscript of her first novel, when she was a complete unknown, to a publisher who took it up.

Now Canetti has responded from beyond the grave in memoirs published in German, on the authority of his estate, under the title: Party in the Blitz: The English Years. The book, written in the early 1990s, has just been published in Germany and is to be translated and published this year in the UK - even though Canetti wrote on his manuscript "temporary, unordered draft (not to be published in this form)".

Canetti, who lived for decades in Amersham in Buckinghamshire and Hampstead, north London, begins his 20-page critique of his former lover with the words: "Yesterday the thick philosophical tome of Iris Murdoch, with her name in giant letters on the cover. I occupied myself with it, unfortunately, for a couple of hours. My distaste for her increased so much that I must say a few things here."

He goes on: "Her book is very badly written, shoddy, like lectures that have not been edited enough. The tone is unpleasantly academic. That would not be so bad if she had something to say."

He describes her intellectual world as derivative, dependent upon philosophical systems she has learnt but not advanced: "There is no single serious thought in her, everything sleeps on."

Murdoch's many love affairs with both women and men anger Canetti, not least because they are transmuted into her novels which "consist of all the Oxford tittle-tattle that she absorbed in half a century. Her characters are all engendered and born in Oxford ... I could say that she made much out of preying on me but it is mixed with so much other prey that one is embarrassed ... One could call Iris Murdoch the Oxford stew."

The dislike of Murdoch's novels and philosophy is accompanied by a venomous personal attack on Murdoch. Writing in his 80s, Canetti seems baffled and angered, not least by their love-making.

"Then the strangest thing happened as soon as we had kissed. The settee on which I always slept was near. Iris undressed herself swiftly, one might say, as fast as lightning, without my laying a finger upon her, she wore things that had absolutely nothing to do with love, woollen, ugly, but they were piled so swiftly into a heap on the floor, she had already laid herself under the blanket on a settee. There was no time to look at her things or at her. She lay unmoved and unchanged, I hardly noticed that I was inside her, I did not feel that she noticed anything."

Canetti, married at the time of the affair, also mocks her appearance. And he is startled by her puritanical attitude to food and drink. He admires her ability to listen and enjoys her passion for listening to him. But he thinks she uses this to exploit others' knowledge, particularly his own. He denies that she is a "real writer" because she "never had to suffer for having to write". Murdoch's memoirs suggest a sado-masochist streak within the relationship as she describes her desire to submit to the "great superb beast" Canetti: "He subjugates me completely. Only such a complete intellectual and moral ascendancy could hold me."

But Peter Conradi, Murdoch's official biographer, told The Independent on Sunday: "Canetti thought he encouraged her writing. The venomous last notes are not a truthful record of their relations over 50 years. He was proud of her initially and also jealous of her. It was almost certainly Canetti who anonymously submitted her first novel for publication."

A N Wilson, in his own controversial memoir of Murdoch, says however: "Canetti was a cruel man. Not only did he behave with physical violence to [Murdoch] during the acts of love ... but he was mentally sadistic."

 

Canetti on Murdoch...

Her intellect...

"Her book is very badly written, shoddy, like lectures that have not been edited enough. The tone is unpleasantly academic. That would not be so bad if she had something to say."

Her relationship to other intellectuals...

"Like a housewife going shopping"

Her artistic growth...

"I know how she arose, before my very eyes she assembled herself, a type of total parasite from Oxford."

Her novels...

"Her 24 novels ... consist in all the Oxford tittle-tattle she absorbed in decades or half a century."

Her looks...

"Huge flat feet and the somewhat bulky legs"

Sex...

"She came to me from time to time and expected - without much ado - sex but always remained unmoved."

 

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Elias Canetti

  Party im Blitz

Leseprobe

 

 

 

Als der Blitzkrieg über London begann, einige Monate nach Dünkirchen, im gefährlichsten Zeitpunkt der englischen Geschichte, erlebte ich in seinem Hause eine Party, die mir vor Augen bliebe, auch wenn ich fünfhundert Jahre danach noch am Leben wäre. Sein Haus war höher als die meisten in Downshire Hill. Es hatte drei Stockwerke, die meisten andern nur zwei. Es war aber schmal wie die andern alle. In jedem Stock waren höchstens ein oder zwei Zimmer. Sie waren von Menschen erfüllt, die tranken und tanzten. Sie standen mit den Gläsern in der Hand da, wie es hier Sitte war, aber mit ausdrucksvollen Gesichtern, was hier gegen die Sitte ging. Es waren manche junge Offiziere in Uniform darunter, lebhaft, ja beinah lebenslustig, von lauten Sätzen überquellend, die man gehört hätte, wenn sie in der Musik nicht untergegangen wären. Die Tanzenden, besonders die Frauen, hatten etwas Aufgerissenes und genossen ihre Bewegungen wie die des Partners. Die Atmosphäre war dicht und heiß, und niemand kümmerte sich darum, daß man Bomben-Einschläge hörte, eine furchtlose und dabei sehr lebendige Gesellschaft. Ich hatte im obersten Stock begonnen, ich traute kaum meinen Augen und ich ging in den zweiten hinunter und traute ihnen noch weniger. Jeder Raum schien feuriger als der, in dem man sich vorher umgetan hatte. In den tieferen Räumen sonderte man sich etwas mehr ab, Pärchen saßen und hielten einander umarmt, die Musik durchdrang uns heiß von oben bis unten, man gab sich mit Umarmungen und Küssen zufrieden, nichts wirkte lasziv, im Basement, wie man hier das Untergeschoß nannte, geschah das Erstaunlichste. Die Türe nach außen wurde aufgerissen, Männer in Feuerwehrhelmen griffen nach Kübeln mit Sand, die sie im Schweiß ihres Angesichts in größter Geschwindigkeit hinaustrugen. Sie achteten auf nichts, das sie im Raum vor sich sahen, in ihrer Eile, die brennenden Häuser in der Nachbarschaft zu schützen, griffen sie wie blind nach den sandgefüllten Kübeln. Es muß eine Unzahl davon gegeben haben, die Paare, es waren hier unten nicht ganz so viele, hielten sich weiter umschlungen, niemand sprang auf, kein Mensch löste sich vom andern, es war, als ginge sie das keuchende, verschwitzte Treiben überhaupt nichts an, zwei verschiedene Tierarten, die einander aus dem Wege gingen, so schien es, aber dieser Anschein trog, denn die Feuerwehr an diesem Abend bestand aus Freiwilligen derselben Straße, unter ihnen der eine oder der andere junge Dichter, die ich in solchen Leibesmühen nie erkannt hätte.
Es ist zu sagen, daß Luftangriffe zu dieser Zeit noch keineswegs dasselbe waren wie in späteren Perioden (wie auf deutsche Städte etwa, die ganz vernichtet wurden), es war etwas, dessen Schrecken eigentlich nur darin bestand, daß man es noch kaum kannte.
Ich verließ das Haus, nach vielleicht einer Stunde, ich war weder in Angst noch Empörung: wohl waren mir die unerschütterlichen Liebespaare neben den keuchenden Feuerwehrmännern peinlich, aber da diese nicht die geringste Verwunderung zeigten, sie stürzten hinein und wieder hinaus, sie trachteten nicht aneinanderzustoßen, daß sie einander nicht behinderten, war ihnen so wichtig wie den sich umklammernden Paaren, daß sie nicht voneinander ließen. In beiden war Entschlossenheit, ich staunte über diese Selbstbeherrschung der Engländer, die sich von nichts und niemand beirren lassen, schämte mich für meine Scham und begann zu ahnen, worin eigentlich der Puritanismus der Engländer bestand, den ich immer bewundert und gefürchtet hatte.

Schräg gegenüber war das Haus Nr. 35, das die geometrisch-abstrakte Sammlung der Margaret Gardiner enthielt. Bei Roland Penrose die Surrealisten, ihr größter Gegensatz. Weder das eine noch das andere verpönt und unterdrückt. Darüber und nebenan der Krieg, England in Erwartung einer Landung, zum ersten Mal seit neunhundert Jahren. Nicht die geringste Spur einer Neigung, vor der Landung, wegen ihr aufzugeben, Emigranten die einzigen, die das Schlimmste erwarteten. Die Engländer selbst so ruhig, daß ich manchmal fassungslos staunte. Es war diese Party nicht das einzige Mal, daß ich zum Staunen Anlaß hatte.

(S. 159ff.)

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