Osip Mandelstam

Осип Эмильевич Мандельштам

(1891 - 1938)

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Artikel erschienen am 4. Okt 2003

Süchtig nach Schokolade

Ralph Dutli verfehlt Ossip Mandelstam - Biografie

von Olga Martynova

Ralph Dutli: Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Ammann, Zürich. 630 S., 28,90 EUR.

Ossip Mandelstam, der 1891 in Warschau als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geborene und 1938 im Sträflingslager bei Wladiwostok umgekommene russische Dichter, ist weltweit zum Inbegriff des "Märtyrers der Poesie" und in Russland zu einer der wichtigsten lyrischen Stimmen geworden. Vielleicht zu der wichtigsten im 20. Jahrhundert. Auf Deutsch liegt eine zehnbändige Werkausgabe (Ammann, 1985 bis 2000) vor, übersetzt und kommentiert von Ralph Dutli. Die Biografie Mandelstams schließt diese gewaltige und Hochachtung verdienende Arbeit ab.

Ein greifbares Bild der Epoche und Umgebung Mandelstams sowie jene Details, aus denen jedes Leben besteht, erwartet man vom 630 Seiten starken Buch umsonst. Dutli folgt den Lebensdaten seines Protagonisten und belegt sie mit Textzitaten und Nacherzählungen, als seien diese nicht Dichtung, sondern autobiografische Dokumente.

Keine Belletristik - gut. Aber auch keine Literaturwissenschaft. Dutli scheint beinahe die gesamte Mandelstam-Forschung zu ignorieren. Mit einer Ausnahme: den Erinnerungen von Mandelstams Witwe Nadeschda. Einer der namhaftesten Philologen der Gegenwart, Michail Gasparow, schreibt über diese Erinnerungen: "N. Mandelstam war auf keinen Fall ein passiver Schatten ihres Mannes. Sie war eine selbständige und sehr begabte Publizistin und hat ein Anklagebuch gegen das sowjetische totalitäre Regime geschrieben. In diesem Buch sind das Schicksal ihres Mannes und seine Worte die Argumente. Das ist Publizistik und keine Vorratskammer für eine Mandelstam-Forschung."

Nadeschda Mandelstams Erinnerungen waren zur Verbreitung für die Texte Mandelstams und zur Enthüllung der kommunistischen Verbrechen enorm wichtig. Aber nun sind beide Aufgaben erfüllt, und man kann sich von der schlichten Legende verabschieden, um sich den etwas komplizierteren Wahrheiten anzunähern.

Trotz zahlreicher Beteuerungen seiner Absicht, keine Heiligenvita zu schreiben und die Komplexität von Mandelstams Persönlichkeit zu bewahren, bleibt Dutli jedoch in den siebziger Jahren, bei "der Publizistik" und in der Steinzeit der Mandelstam-Forschung stecken. Überall sieht er politische Andeutungen und einen zwischen den Zeilen geisternden Stalin. Gegenargumente (falls er sie überhaupt erwähnt) werden einfach abgetan, in einem polemischen Tonfall, der einen mit den wissenschaftlichen Streitereien nicht vertrauten Leser befremden muss. Über die inzwischen erschienenen aspektreichen Arbeiten vieler Kollegen zum Werk Mandelstams schreibt Dutli, ein "westlicher Betrachter" werde den Verdacht nicht los, es gehe um "eine Selbstrechtfertigung und Selbstreinwaschung ... Denn eigene Feigheiten und Anpasserei wurden bequem entschuldbar, wenn man sich ,den Fall Mandelstam' vergegenwärtigte".

Unter den Menschen, die sich bereits in den sechziger und siebziger Jahren über gewisse Vereinfachungen und Unwahrheiten in den Memoiren Nadeschda Mandelstams (Dutli nennt sie "die Bibel der Dissidenten") empörten oder verwunderten, befinden sich sehr geachtete Persönlichkeiten, von denen keinerlei "Anpassereien und Feigheiten" überliefert sind, etwa Anna Achmatowa, die lebenslange Freundin Mandelstams (und seiner Witwe), oder die Schriftstellerin Lidija Tschukowskaja, in den siebziger und achtziger Jahren ein Symbol des geistigen Widerstandes. Der "westliche Betrachter" hat wohl nicht bedacht, dass er mit der Art, Opponenten niedriger moralischer Motive zu bezichtigen, in eine ungewollte Nähe zu den Methoden der "Prawda" gerät.

Dutli zeigt Mandelstam in einem Vakuum - im Einklang mit dem Mythos, demzufolge er ein einsamer Kämpfer in völliger Isolierung gewesen sei. Der Leser erfährt kaum etwas über die Freunde des Dichters im verrückten, freudigen und kreativen Petersburg der Jahrhundertwende, im Wirrwarr der Revolution und des Bürgerkrieges oder im markanten literarischen Alltag der zwanziger Jahre. Nur Frauen kommen ausführlicher in Betracht, allerdings unter dem Vorbehalt, dass sie "keine ernsthafte Gefährdung der Liebe zu Nadeschda" darstellten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich Ralph Dutli allzu sehr mit Nadeschda Mandelstam identifiziert.

Zu alldem kommt hinzu, dass seine Interpretationen der Gedichte oft sachlich falsch orientieren. Über das berühmte Gedicht an Maria Petrowych (vom Dichter "die liebe Türkin" genannt) schreibt Dutli: "Das Gedicht träumt vom Ertrinken mit der Geliebten und keiner weiß, wo sich das erotische Geschehen abspielt: in einem Bett oder in einem Aquarium?" In dem Gedicht kommen tatsächlich Fische und Wasser vor, aber es handelt sich nicht um ein Aquarium, sondern um das Bild einer grausamen orientalischen Hinrichtung - die untreue Frau und ihr Liebhaber werden in einen Sack eingenäht und ertränkt.

Eines der schmerzhaftesten Probleme der Mandelstam-Legende ist seine "Ode an Stalin" (1937) und andere späte Texte, wie "Verse vom Unbekannten Soldaten", die in einem klassisch gewordenen Artikel von M. Gasparow (1995, Zeitschrift NLO, Nr. 16) analysiert und als Versuch einer Einordnung in das Sowjetleben verstanden werden. Der Dichter, der 1933, am Vorabend des großen Terrors, ein Epigramm gegen Stalin geschrieben hatte, in dem der Diktator ein "Verderber der Seelen und Bauernabschlachter" genannt wird, bezahlte dafür mit seinem Leben.

Doch nicht sofort. Er hatte noch fünf Jahre der Verbannung, Armut, Krankheit, Demütigung vor sich, aber auch einen unerhörten kreativen Auftrieb. In dieser Zeit, die er als ein Leben nach dem Tod verstand (er war anfangs davon überzeugt, dass er hingerichtet werden würde), schrieb Mandelstam Gedichte, die von seinem Versuch zeugen, sich zu dem neuen, "geschenkten" Leben zu bekennen.

Mandelstams komplexe, tragische und nahezu unbegreifliche Unbeständigkeit zeigte sich in seiner ewigen Gespanntheit zwischen den Gegensätzen: wie Christentum und Judentum, der Liebe zu Nadeschda und dem Bedürfnis, immer in jemanden verliebt zu sein, seiner kindlichen Naschhaftigkeit (der unüberwindlichen Liebe zur Schokolade etwa) und dabei seiner absoluten Opferbereitschaft.

Der Mensch konnte kapitulieren, seine Poesie konnte es nicht. Das ist das Wunder Mandelstams, noch in der "Ode an Stalin". Die Kluft zwischen dem Abscheu gegen die Grausamkeit und dem Wunsch, dem gepeinigten, betrogenen Volk anzugehören, nimmt Mandelstam weder Größe noch Tragik, sondern lässt ihn sein, was er immer war: ein großer Dichter Russlands.

 

43/2000

L I T E R A T U R

Mandelstam lacht

Wenn die Dinge zu sprechen und zu tanzen anfangen: Der letzte Band der Werkausgabe des großen russischen Dichters

Hanns-Josef Ortheil

Ossip Mandelstam:Die beiden Trams. Kinder- und Scherzgedichte; aus dem Russischen und herausgegeben von Ralph Dutli; Ammann Verlag, Zürich 2000; 237 S., 58,- DM

Ossip Mandelstam:Das Gesamtwerk in Kassette. Amman Verlag, Zürich 2000; 10 Bände; zusammen 398,- DM

Hat Ossip Mandelstam gelacht? Ja, wirklich? Hat er? Seine Frau Nadeschda Mandelstam schreibt, dass er sehr gern gelacht habe und Scherze gemacht, vor allem im Beisein von Anna Achmatowa. Und Anna Achmatowa erinnert sich und bestätigt, dass sie mit niemandem so gut gelacht habe wie mit Mandelstam, ja dass in dem kleinen Zimmerchen, das sie bewohnte, oft ein ganzes Lachgelage entstanden sei und es den Anschein gehabt habe, als sei Mandelstam zu ihr gekommen, um sich für einen Monat im voraus satt zu lachen.

Ossip Mandelstam hat also gelacht, der letzte und zehnte Band der von Ralph Dutli mit großer Sorgfalt herausgegebenen Werkausgabe des Ammann Verlages enthält Kinder-und Scherzgedichte und kleine, ironische Epigramme auf Zeitgenossen, die Texte und Atmosphären von Mandelstams Lachen also, vorgetragen von einem bisher noch weitgehend unbekannten Mandelstam, dem Mandelstam der Lachgelage, wo das Absurde neben dem reinen Blödsinn bestehen durfte und die Worte einander ansteckten und sich krümmten und bogen.

Dem Übersetzer und Kommentator Ralph Dutli muss es schwer gefallen sein, bei all diesen Texten ernsthaft zu bleiben, aber er hält auch im letzten Band der schönen zehn Bände an seinen gewissenhaften und aus den Weiten Russlands herbeizitierten Erläuterungen fest, so viele Dichterinnen und Dichter scharen sich selbst noch hier um Mandelstams Verse, als habe man sie alle gebeten, auch zu diesen sich harmlos gebenden Zeilen ihre Vorläufer- oder Nebenherläuferschaft zu beweisen. Plötzlich ist die russische Literatur voller kindbegeisterter, humorvoller oder auch komisch-überdrehter Menschen, die versuchen, ihr Bestes an Lachhaftem und Lachbarem zu geben.

Dann erzählt Boris Pasternak aus Lüwers' Kindheit, Andrej Belyi versetzt sich in die Gedankenwelt eines Kleinkindes und imitiert tollkühn-modern einen kindlichen Bewusstseinsstrom, Welimir Chlebnikow lauscht der Kinderakustik nach, und Daniil Charms schreibt seine kurzen, absurden Geschichten für Kinder, die gleich anfangen, seine Geschichten weiterzuerzählen. Es ist, als seien die ers-ten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts für die russische Literatur heitere und glückliche Jahre gewesen und als hätte die Ausgelassenheit der Dichter keine Grenzen gekannt.

Da man es aber nun einmal besser weiß und die schrecklichen Jahre und das schreckliche Ende all dieser Dichter kennt, fasst man sich an den Kopf, wird gleich wieder ernst und versenkt sich in Mandelstams Kindergedichtbücher. Mitte der zwanziger Jahre konnten sie noch in russischen Verlagen erscheinen und hatten Titel wie Der Primuskocher, Die beiden Trams, Luftballons oder Die Küche. Die meisten kreisen um Dinge und Gegenstände des russischen Alltags, um Dinge, die Kindern ganz nahe sind und mit denen sie Tag für Tag leben.

Auf dem Tisch steht dann etwa der Primuskocher, man staunt und fragt sich, was ein Primuskocher wohl sein könnte, und sofort erklärt einem Ralph Dutli in seinen allwissenden Erläuterungen, dass es sich beim Primuskocher um einen Wärme spendenden Kerosinkocher der Marke Primus handelt, der in Mandelstams späterem Nomadenleben noch eine große Rolle gespielt habe. Jetzt ist klar, warum der Kerosinkocher in dem kleinen Kindergedicht auseinander genommen wird, er ist krank, er funktioniert nicht mehr, man muss Wasser reinschütten, der Primusdoktor muss kommen und ihn reparieren.

Schauen, gucken, auseinander nehmen, zusammensetzen - das sind die ersten Regeln, die Mandelstam dem Kinderumgang mit den kleinen Dingen abgeschaut hat. Und nun bemüht er sich, diese Regeln auch zu Regeln seiner Kinderpoetik zu machen, und deshalb darf jetzt gleich so etwas sonst Unauffälliges wie weiße Wäsche in den Blick geraten, weiße Wäsche ist ja etwas Wunderbares, und da hat Mandelstam auch gleich zwei gute Zeilen für sein Weiße-Wäsche-Gedicht, ganz einfach und unmittelbar einleuchtend: "Ich hab die Wäsche so gern, / Das weiße Hemd ist mein Freund ..."

Jetzt sind wir ganz nah dran an den Dingen, mit fast schon mikroskopischem Auge, tastend, fühlend, sodass in die Gedichte die kleinsten Beobachtungen des Kinderauges einziehen können, etwa die, wie sich rohe Milch, wieder etwas wunderbar Weißes, in abgekochte Milch verwandelt, wie sie erbleicht und plötzlich alle staunen, wie weich sie werden kann während des Abkochens, schwebend-weich beinahe, und wie sie sich dann doch strafft und sich eine Haut zulegt, eine feste, dehnbare Abwehrhaut, obenauf.

Solche Kinderlebnisse bringt Mandelstam in acht kurzen Zeilen zusammen, Beobachtungen, eine kleine Verwandlung, das Staunen, und es ist, als könnte die weiße Milch nun eine Geschichte erzählen.

So vibriert es auf dem Küchentisch vor unseren Kinderaugen, denn jetzt hat auch der erwachsene Leser Kinderaugen und vertieft sich ins Kleinste, das nun in die Hand genommen werden will, während die Brennholzscheite in die Küche gebracht werden: "Wie sie krachen, diese Stücke, / Schön gespalten werden solls - / Kiefer, Tanne, Birkenholz!" Der Holzduft ist nun also da, in einer Zimmerecke warten die Gummischuhgaloschen abwesend-sinnend auf ihren Einsatz im Regen. Dann tanzt ein rosiges Birkenscheit im Feuer, und es werden "Pfannkuchen! Pfannkuchen" gebacken, "Gebacken werden - oh, wie schön - / Morgens schon im Sonnenblumenöl", und die Wäsche wird im Riesenkessel gekocht, schauen wir gleich mal hinein: "Es bläht sich ein Tischtuch / Als Stör in dem Schwall / Und schwimmt wie ein Weißlachs / Als Kugel, als Ball."

Jetzt ist die ganze Küche belebt, ein Sinnenreich ohnegleichen, und Brotmesser und Essmesser geraten an den Schleifstein, und es kocht der Samowar, und die Blätter des schwarzen Tees klingeln im Döschen wie ... ja, wie? "So wie Nägelchen" und locken: "Also kommt schon, liebe Gäste, / Teezeit jetzt, fühlt euch daheim, / Mich, den duftenden, geschätzten / Werft in diese Kanne rein!"

Daher ist das Kinderfest vollkommen, die Dinge sprechen, tanzen, und man sieht Mandelstam wahrhaftig mittendrin, einen kleinen, sich auf der Stelle drehenden Mann, lachend, ja, doch: Mandelstam lacht!

Dieses Lachen aber ist noch das Lachen Mitte der zwanziger Jahre, später wird Mandelstam keine Kindergedichte mehr schreiben, denn schon wenig später wird er für einige Jahre ganz verstummen und überhaupt keine Gedichte mehr schreiben. Die Vorzeichen seines Verstummens und seines dann bis zum tödlichen Ende dauernden Kampfes mit dem Sowjetregime aber sind schon in den so lebensfroh hellen Kindergedichten versteckt, etwa in dem von den Luftballons, wo der grüne Luftballon Kummer kriegt "vom großen Rabauken, vom schrecklichen Roten, dem Großkopf, dem Lauten", oder in dem von den beiden Trams, wo sich die eine Tram auf die Suche nach der befreundeten anderen macht, die Klik heißt, was im Russischen so viel bedeutet wie "Zuruf, Ausruf, Schrei". Hinten, im Anmerkungsteil, erklärt einem Ralph Dutli dann, dass dieser Schrei in Wahrheit einem Freund Mandelstams galt, der 1921 in Petrograd als angeblicher "Konterrevolutionär" erschossen worden war und der ein Gedicht geschrieben habe mit dem Titel Die verirrte Trambahn.

Und, sich in diesen Anmerkungen festlesend, bekommt man sehr genau, aber gar nicht pedantisch erklärt, dass die Alltagsgegenstände, die Mandelstam in seinen Kindergedichten besang, in den Gedichten seiner späten, in Verbannung und Arbeitslagern durchlittenen Jahre wiederkehren, als die traurig besungenen Gegenstände der Not, als Insignien der Klage.

Seinen Spott und sein Lachen hat Mandelstam in diesen späten Jahren nicht mehr mit den Kindern geteilt, er hat sein Lachen in kleinen Scherzgedichten aufbewahrt oder in Epigrammen auf Zeitgenossen bezogen. Sie machen den zweiten Teil dieses Bandes aus, und man versteht sie als Nachhall auf ein Leben, das sich auf diese Weise gegen alle Widerstände trotzig behauptete und versuchte, die Nähe zu den anderen, zu den Freunden und Weggefährten, zu erhalten.

Liest man diese Gedichte so, also mit einem wissenden Blick, entsteht mit ihnen die Figurengalerie einer Biografie, und man schaut, notgedrungen selbst immer trauriger werdend, auf all diese kleinen Szenen, die in ihrer Fröhlichkeit meist unterbrochen oder abgebrochen werden, als legte sich Mandelstam manchmal einen Finger auf den flüsternden Mund.

Aber sie sind da, die Freundinnen, die Freunde. Anna Achmatowa ist da und Alexander Blok, der Nachhilfelehrer Motschulskij, der Ägyptologe Schilejko und der Maler Lew Bruni. Sie treten in Petersburger Künstlerkneipen oder in Moskauer Stadtszenen auf, sie huschen, torkeln und stolpern durch die mit dunklen Hintergründen versehenen Skizzen von Mandelstams Gedichten. Bis die letzte Freundin erscheint, Natascha Schtempel. "Da kommt Natascha. Wo war sie? / Sie hat doch nichts getrunken, wie? / Und Mama wittert, schwarz wie die Nacht: / Sie riecht nach Wein und Zwiebeln, ach!"

Natascha Schtempel war eine der wenigen Freundinnen, die die Mandelstams im Verbannungsort Woronesch noch hatten. Später nahm sie auf der Flucht vor den deutschen Truppen jenen Notizblock mit, auf dem Mandelstam seine letzten Gedichte notiert hatte. Kurz vor ihrem Tod hat sie sich 1987 an ihn zu erinnern versucht, daran etwa, dass Ossip Emiljewitsch seine Scherzgedichte oft beim Tee geschrieben habe und zwar meist dann, wenn sie Anstalten gemacht habe aufzubrechen. Natascha Schtempel bestand in ihren Erinnerungen darauf, dass sie Zwiebeln nicht ausstehen konnte und dass sie auch nie ein besonderes Vergnügen am Wein trinken gefunden habe. Ossip Mandelstam, erinnerte sich Natascha Schtempel, habe das natürlich sehr genau gewusst. Und doch habe er genau das Gegenteil geschrieben, lachend, Ossip Mandelstam habe eben nicht aufhören können zu lachen.

N Z Z  Online

Neue Zürcher Zeitung, 28. Oktober 2003, Ressort Feuilleton

Dichten in der Sowjetnacht

Ralph Dutlis mustergültige Mandelstam-Biografie

Ralph Dutli: Meine Zeit, mein Tier. Ossip Mandelstam. Eine Biografie. Ammann-Verlag, Zürich 2003. 640 S., Fr. 44.80.

Ulrich M. Schmid

Wenn einer berufen ist, eine Biografie von Ossip Mandelstam (1891-1938) zu schreiben, so ist es Ralph Dutli. Vor zwanzig Jahren hatte Dutli begonnen, Ossip Mandelstams Lyrik und Prosa zu übersetzen; im Jahr 2000 war die zehnbändige Gesamtausgabe im Zürcher Ammann-Verlag abgeschlossen. Dutli kennt jede Zeile von Mandelstam, sein feines Ohr hat allen Modulationen des russischen Dichters nachgehorcht. Dutlis Vermittlungsarbeit wurde von einem berühmten Vorgänger vorbereitet: Bereits 1959 hatte Paul Celan in seinen Übertragungen auf Mandelstams weltliterarisches Format aufmerksam gemacht. Allerdings dominiert in diesen Texten oft Celans eigenes lyrisches Temperament - allein schon die Auswahl der übersetzten Gedichte zeigt eine Vorliebe für tragische Themen, die gewiss einen wichtigen Teil von Mandelstams lyrischem Œuvre ausmachen. Celan blendet indes alles aus, was nicht in die elegische Diktion hineinpasst: den albernen, den lebensfrohen, den sinnlichen Mandelstam, der auch Gedichte über Strassenbahnen, Tennis oder Eiscrème verfasste. Celan hat sich Mandelstam konsequent anverwandelt; Spuren des russischen Dichters finden sich denn auch in Celans eigener Lyrik. Dutli geht einen Schritt über Celan hinaus: In seinen Übersetzungen werden alle Facetten von Mandelstams Schaffen für den deutschen Leser erfahrbar: die sprachlichen Klangkompositionen, die kulturphilosophischen Spekulationen, die Vielfalt der poetischen Bilder.

Die tragische Perspektive, die in der Rezeption von Mandelstams lyrischem Werk dominiert, trifft in viel stärkerem Mass auch auf seine Biografie zu. Fortgesetzte Anfeindungen durch die offizielle Sowjetkultur, zwei Verhaftungen, wiederholte Selbstmordversuche, qualvoller Tod in einem Durchgangslager bei Wladiwostok - so heissen die Stationen eines Martyriums, das in der heutigen Wahrnehmung alle anderen Aspekte von Mandelstams Leben zu überschatten droht. Dutli beginnt deshalb seine Mandelstam-Biografie mit einer Darstellung des modernen Orpheus-Mythos, der sich um die Gestalt Mandelstams rankt: Der «reine Sänger» bezwingt den Gott der Unterwelt und stirbt schliesslich selbst den Opfertod.

Dutli beleuchtet diesen Mythos kritisch, er ist aber weit davon entfernt, dem Leiden Mandelstams seinen Respekt zu versagen. Im Gegenteil: Er begreift Mandelstams Verschwinden in der «Sowjetnacht» als Teil einer condition poétique, die konsequent am künstlerischen Ideal einer absoluten Aufrichtigkeit festhält. Schon Joseph Brodsky hatte auf den fatalen Kausalitätsnexus zwischen Leiden und Lyrik hingewiesen, der sich im Bewusstsein der Leser oft einstellt, letztlich aber die künstlerische Autonomie des Dichters entwertet: «Es ist ein grässlicher Trugschluss zu glauben, dass Leiden grössere Kunst hervorbringe. Leiden macht blind, taub, es ruiniert, und oft tötet es. Ossip Mandelstam war bereits vor der Revolution ein grosser Lyriker.»

Auch Dutli weicht allen sentimentalen Zuschreibungen konsequent aus. Er entwirft das Bild eines streitbaren, humorvollen, bisweilen auch naiven Dichters, der sich seines eigenen literarischen Ranges sehr wohl bewusst war. Bezeichnend ist folgendes Beispiel: Mandelstam lebte 1919 in Feodossija auf der revolutionsgeschüttelten Krim und bestritt seinen kärglichen Lebensunterhalt durch Bettelei. In dieser misslichen Lage versammelte er seine potenziellen Mäzene und sagte streng zu ihnen: «Beim Jüngsten Gericht wird man euch fragen, ob ihr den Dichter Mandelstam verstanden habt, und ihr werdet mit Nein antworten. Man wird euch fragen, ob ihr ihn ernährt habt, und wenn ihr mit Ja antwortet, so wird euch vieles verziehen werden.»

Judentum

Ein Leitmotiv in Mandelstams Leben bildet sein schwieriges Verhältnis zum Judentum. Dutli arbeitet die Ambivalenzen von Mandelstams Familiengeschichte präzise heraus: Der Vater stammte aus einem orthodoxen Stetl in Litauen, während die Mutter zur aufgeklärten jüdischen Intelligenz in Wilna gehörte und ganz in der russischen Kultur lebte. Mandelstam wuchs in einem säkularen Umfeld auf und konvertierte 1911 in einem pragmatischen Akt zum Christentum, weil unter Nikolai II. eine Dreiprozentquote für jüdische Studierende an den Universitäten galt. Mandelstam vergass aber seine Wurzeln nie und entwickelte in seinen Essays aus dem Judentum eine umfassende Kulturvision. Mandelstam träumte von einer hellenistisch-jüdisch-christlichen Weltkultur, in der sich die ganze Menschheit aufgehoben fühlt. Das Judentum galt Mandelstam dabei als Keimzelle jener schöpferischen Gestaltungskraft, die alle Materie mit Geist durchdringt.

In zahlreichen Gedichten versuchte Mandelstam, poetische Chiffren für das Judentum zu finden. Dabei spielt das schwarz-gelbe Gebetstuch des Grossvaters aus einer Kindheitserinnerung eine wichtige Rolle - Mandelstam setzte diese Farbkombination später immer wieder als Schuldmetapher ein. Dieses künstlerische Verfahren hat vor dem Hintergrund von Mandelstams Übertritt zum Christentum zu prekären Missverständnissen geführt. Dutli moniert, dass Mandelstam in der «Encyclopedia Iudaica» (1971) und noch im «Neuen Lexikon des Judentums» (2001) als «Repräsentant des jüdischen Selbsthasses» bezeichnet wird: Eine solche Charakterisierung greife viel zu kurz und bleibe blind für die Tatsache, dass Mandelstam in den zwanziger und dreissiger Jahren verschiedentlich bekräftigt habe, er liebe das Judentum und sei auf den «ehrenvollen Titel eines Juden» stolz.

Ossip Mandelstams Biografie endet nicht mit dem physischen Tod des Dichters. Bevor sein lyrisches Werk zu einem Kernbestand der Weltliteratur werden konnte, musste der gültige Text seiner Gedichte gesichert und bewahrt werden. Nadeschda Mandelstam, die Witwe des Dichters, wachte als Hüterin über seinen Nachlass - sie fertigte Abschriften an, versteckte die Kopien an verschiedenen Orten und vertraute sie Freunden zur Aufbewahrung an. Überdies lernte Nadeschda Mandelstam das ganze Korpus von Mandelstams Gedichten auswendig. Auf diese Weise sollte das unzuverlässige Speichermedium Papier durch die unangreifbare Existenz der Texte im Gedächtnis ersetzt werden. Daraus ergab sich allerdings für Nadeschda Mandelstam die Pflicht, die politische Verfolgung zu überleben.

Dieses biografische Projekt war letztlich erfolgreich: Wenige Jahre vor ihrem Tod im Jahr 1980 erlebte Nadeschda Mandelstam die Rückkehr der Gedichte ihres Mannes nach Russland: 1973 erschien ein von der sowjetischen Kulturverwaltung fabrizierter Auswahlband, der in einem tendenziösen Vorwort die offizielle Deutung von Mandelstams Lyrik definierte. Mit keinem Wort wurde aber die politische Verfolgung Mandelstams erwähnt. Erst 1990 konnte in Moskau eine unzensierte zweibändige Mandelstam-Ausgabe publiziert werden; die Auflage von 200 000 Exemplaren war in wenigen Tagen vergriffen. Damit war die Eingliederung von Mandelstams Werk und Biografie in das kollektive Gedächtnis Russlands allerdings noch nicht abgeschlossen. 1998 veröffentlichte die 95-jährige Emma Gerstein ihre Erinnerungen, in denen sie Nadeschda Mandelstam scharf angriff. Gerstein, die in den dreissiger Jahren mit den Mandelstams befreundet war, wandte sich vor allem gegen Nadeschdas erotische Freizügigkeit und beschimpfte sie als «bisexuelle Exhibitionistin» und «schamlose Äffin».

Allerdings wird Gersteins späte Abrechnung den Tatsachen kaum gerecht. Man darf annehmen, dass Gerstein vor allem gegen den schriftstellerischen Erfolg von Nadeschda Mandelstams Memoiren anschrieb. In ihrem einflussreichen «Jahrhundert der Wölfe» hatte Nadeschda nicht nur das Zusammenleben mit Ossip Mandelstam in einfühlsamen Worten geschildert, sondern gleichzeitig eine hellsichtige Analyse des totalitären Staats gegeben, der eifersüchtig über sein Monopol auf die Deutung der Wirklichkeit wachte. Emma Gerstein wusste, warum sie ihre Gegendarstellung zu Nadeschda Mandelstams Sicht der Dinge erst 1998 veröffentlichte: Am Ende des 20. Jahrhunderts war kein Zeitzeuge mehr am Leben, der diese letzte biografische Version hätte korrigieren können. Der umfassende Publikumserfolg von Gersteins Memoiren zeigt aber in aller Deutlichkeit, wie präsent die Persönlichkeit Mandelstams in der heutigen russischen Kultur ist.

Biografie als Effekt der Lyrik

Ralph Dutlis Mandelstam-Buch darf nicht nur wegen der Ausgewogenheit der Darstellung als mustergültige Dichterbiografie gelten. Dutli bleibt nie in den biografischen Details stecken, er verweist den literarischen Klatsch in die gebotenen Grenzen und räumt der Lyrik breiten Raum ein. Mandelstams Leben wird dadurch als eine Folge, nicht als Ursache seines Schreibens erkennbar. Immer wieder weist Dutli auf Mandelstams exklusive Befähigung zum Dichtertum hin, das in seiner übermächtigen Wirkungskraft alle anderen Lebenskompetenzen verdrängte. Mandelstam lebte von der Hand in den Mund; er blieb zeitlebens ohne feste Wohnung und behielt keine Anstellung länger als ein paar Monate. Es gibt nicht viele Fotodokumente von Ossip Mandelstams unstetem Lebensweg. Dutli präsentiert in seinem Buch aber einige Aufnahmen, die man sonst nicht kennt. Unter den Trouvaillen befinden sich eine Aufnahme des dreijährigen Mandelstam in Pawlowsk, ein Gruppenbild aus Armenien und ein Porträt aus der Verbannung in Woronesch. Aus dem Zusammenspiel von biografischer Erzählung, subtiler Deutung der Gedichte und fotografischem Bildmaterial entsteht in Dutlis Buch das Lebensbild eines Dichters, der die Ausdrucksmöglichkeiten der Lyrik im 20. Jahrhundert entscheidend erweitert hat.

1-12-2003

Orpheus in der Schlinge

Ralph Dutlis Biographie über Ossip Mandelstam

RALPH DUTLI: Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie. Ammann Verlag, Zürich 2003. 640 Seiten, 28, 90 Euro.

CHRISTOPH BARTMANN

Im Jahr 1932 beurteilt die neue sowjetische Literatur-Enzyklopädie Ossip Mandelstam wie folgt: Sein Schaffen sei „der künstlerische Ausdruck des Bewusstseins der Großbourgeoisie“, es zeige „völlige Indifferenz der Gegenwart gegenüber“, „äußersten Fatalismus und die Kälte innerer Gleichgültigkeit“ sowie „extrem bourgeoisen Individualismus“. Schwer kann man sich ein vernichtenderes Strafgericht über einen Dichter vorstellen.

Verfasst wurde es – wie Ilja Ehrenburg sich später erinnerte – von einem ehemaligen Mandelstam-Verehrer, der unter dem Druck der Verhältnisse auf die Seite der Staats- und Parteimacht übergelaufen war.

Wie immer man den Wortlaut dieses Verdikts sonst beurteilen mag, es sagt doch – eher unfreiwillig – auch Zutreffendes über Mandelstam aus. Nach „Kälte“ und bourgeoisem Bewusstsein wird man bei ihm zwar vergeblich suchen, die inkriminierte „Indifferenz“ aber und vor allem der „Individualismus“ sind Grundzüge seiner poetischen Existenz. Wie hätte sie sich anders verwirklichen lassen als durch ein Ab- oder Hinwegsehen von den Zumutungen seiner Gegenwart? „Über uns ein barbarischer Himmel“, schreibt Mandelstam schon 1918, „und dennoch sind wir Hellenen“.

Nachlesen lässt sich all dies nun in Ralph Dutlis eindrucksvoller Mandelstam-Biographie, Abschluss und Krönung der von ihm im Ammann Verlag herausgegebenen zehnbändigen Werkausgabe des Dichters, der 1891 in Warschau geboren wurde und 1938 in einem Durchgangslager bei Wladiwostok an Entkräftung starb (Nadeschda Mandelstam, seine Frau, überlebte ihn um mehr als vier Jahrzehnte und trug seinen Ruhm in die Welt hinaus). Dank Dutlis Leistung als Übersetzer und Biograph hat das Deutsch lesende Publikum nun den denkbar besten Zugang zu Mandelstams epochalem Werk.

Am Ende seiner Biographie hat Dutli Stimmen von Dichtern über Mandelstam gesammelt; die bemerkenswerteste ist vielleicht die von Pier Paolo Pasolini: „Leichtfüßig, klug, geistreich“, schreibt er, „elegant, ja sogar exquisit, fröhlich, sinnlich, immer verliebt, redlich, hellsichtig und glücklich, selbst noch im Dunkel seiner Nervenkrankheit und des politischen Schreckens, jugendlich, ja fast jungenhaft, bizarr und kultiviert, treu und erfinderisch, lächelnd und geduldsam, hat uns Mandelstam eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts geschenkt.“ Eine der glücklichsten Dichtungen, so wäre zu ergänzen, in einer der finstersten Zeiten.

 

Zeit des Gedichtfiebers

 

„Dennoch sind wir Hellenen“, schreibt Mandelstam, dem das Hellenentum nicht in die Wiege gelegt war, wohl aber die musische Begabung. In seiner autobiographischen Prosa, erschienen unter dem Titel „Das Rauschen der Zeit“, hat er die Voraussetzungen seiner Künstlerschaft offen gelegt. Der Vater, ein Lederhändler, entstammte dem orthodoxen Judentum des Schtetl, hatte sich dann, seinen philosophischen und freidenkerischen Neigungen folgend, nach Berlin aufgemacht, ehe er sich im damals russischen Warschau niederließ. Die Mutter, Klavierlehrerin von Beruf, kam aus dem litauischen Wilna und zählte mit ihrer Familie zu den „Litwaken“, Vertretern des städtischen und emanzipierten Haskala-Judentums, das es zur Integration in die russische Kultur drängte.

Ossip nannte das Paar den erstgeborenen Sohn und wählte damit, wie um den Willen zur Assimilation zu bezeugen, die russisch-volkstümliche Version des Namens Joseph. Bald übersiedelt die Familie nach Petersburg, wo Mandelstam an der reformorientierten Tenischew-Schule mit den sozialrevolutionären Tendenzen der Zeit in Kontakt kommt und sich zum Agitator entwickelt. Eine Paris-Reise im Jahre 1907, in einer „Zeit der Erwartungen und des Gedichtfiebers“, führt ihn an Bergsons Philosophie und die Dichtung Verlaines heran. 1909/1910 folgt ein Studienaufenthalt in Heidelberg, wo er Vorlesungen bei Windelband und Lask hört.

Es entstehen Gedichte, die den jungen Mandelstam in religiöse Zweifel und Grübeleien versenkt zeigen: Schrecklich ist für mich unter Wasser der Stein des Glaubens, / Sein fatales unaufhörliches Kreisen, heißt es in einem Gedicht von 1910. Der Weg zum Hellenentum ist mit jeder religiösen Konfession letztlich unvereinbar. 1911 lässt sich Mandelstam, um in Petersburg studieren zu können, in Viborg nach finnisch-methodistischem Ritus taufen. Bald darauf erscheint sein erster Gedichtband „Der Stein“.

Fortan bildet er, gemeinsam mit Anna Achmatova und Nikolaj Gumiljow, die erste Reihe der „akmeistischen“ Poesie, einer Konter-Avantgarde, die sich in zweifacher Abgrenzung von Symbolisten wie Futuristen auf den „Eigenwert jeder Erscheinung“ beruft, sei sie alt oder neu, klassisch oder modern, vulgär oder erhaben. „Liebt die Existenz des Dinges mehr als das Ding an sich, und euer eigenes Dasein mehr als euch selbst – das ist das höchste Gebot des Akmeismus“, heißt es in einem der zahlreichen Manifeste jener Jahre. Ein Vorbild oder Rollenmodell erblickt Mandelstam, wie andere Dichter seiner Zeit, in Orpheus, dem Ur-Sänger – als modernen Orpheus hat Joseph Brodsky den von ihm verehrten Mandelstam denn auch bezeichnet.

 

Als Hellene am Schwarzen Meer

 

Dem rauschhaften, bildungstrunkenen Hellenentum, das Mandelstam um diese Zeit zu seiner Lebens- und Kunstmaxime erhebt, stehen bald schon die äußeren Verhältnisse krass entgegen. Will man sein kurzes Leben in zwei Hälften teilen, so gibt es eine (kürzere) Zeit ohne Hunger, Krankheit und politische Repression und eine längere, in der Mandelstams Existenz (und die seiner Frau Nadeschda, mit der er seit 1919 zusammenlebt) unablässig auf dem Spiel stehen. Es konnte wohl nur einer, der wie Mandelstam akmeistisch sein Dasein mehr liebt als sich selbst, ein Leben ertragen, das, von außen besehen, aus wenig mehr als Hunger und Krankheit, Verfolgung und Verbannung, Bedrohung und Diffamierung bestanden hat – und das doch „eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts“ hervorgebracht hat.

Auch unter dem dunklen Himmel der „Sowjetnacht“ bleibt Mandelstam Hellene, den seine Reisen immer wieder auf die Krim führen, ans Schwarze Meer, die Küsten Ovids, wo das russische Imperium an den Mittelmeerraum grenzt. Mal wird der Hellene als Menschewik und Spion der „Weißen“ verdächtigt, mal werden ihm trotzkistische Neigungen unterstellt. Suspekt ist Mandelstam der Sowjetmacht in jedem Falle, und nur die Wertschätzung, die er als Lyriker bei einigen ihrer Führer, etwa bei Bucharin genießt, bewahrt ihn vor dem Äußersten. „Die Dichter haben immer recht“, schreibt Bucharin noch 1934 in einem Brief an Stalin, aber langsam zieht sich auch um ihn und andere Verteidiger Mandelstams die Schlinge zusammen.

Mandelstams Schicksal ist spätestens seit dem 6. Mai 1934, jenem denkwürdigen Ereignis im Leningrader „Haus der Presse“ besiegelt, mit dem Nadeschda Mandelstam ihr Erinnerungsbuch „Das Jahrhundert der Wölfe“ beginnen lässt: Mandelstam ohrfeigt öffentlich den offiziösen Schriftsteller Alexej Tolstoj, weil dieser ihn in der zwei Jahre zurückliegenden Sargidschan-Affäre zu Unrecht mitverurteilt hatte. Gorkij soll die Ohrfeige mit den Worten quittiert haben: „Wir werden ihn lehren, was passiert, wenn man russische Schriftsteller schlägt.“ Wenig später wird er verhaftet und in die Lubljanka verbracht, dann zu drei Jahren Verbannung im Ural verurteilt. Er begeht einen Selbstmordversuch; bald darauf wird sein Verbannungsort geändert. 1937, nach der Rückkehr nach Moskau, wird er erneut verhaftet, 1938 wegen konterrevolutionärer Tätigkeit zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt.

Mandelstam ist im Archipel Gulag angekommen; am 27. Dezember 1938 stirbt er im sibirischen Osten, nach einer trotz großer Kälte angeordneten Desinfizierungsmaßnahme. 1935 hatte ihn die Schriftstellervereinigung von Woronesch in provokativer Absicht gefragt, was eigentlich Akmeismus sei. Mandelstams Antwort: „Sehnsucht nach Weltkultur“.

  

2-1-2004

Auge in Auge mit der Realität

Die Poesie ist niemandem etwas schuldig: Ralph Dutli gelingt es in seiner psychologisch einfühlsamen und nie aufdringlichen Ossip-Mandelstam-Biografie, hinter der Figur des Asketen und Literaturbesessenen auch den lebensfrohen, sinnlichen, witzigen Mandelstam zum Vorschein zu bringen

VON MARION LÜHE

Ralph Dutli: "Mandelstam. Meine
Zeit, mein Tier. Eine Biographie". Ammann Verlag, Zürich 2003.
640 Seiten, 28,90 

Anlässlich des Revolutionsfeiertags am 7. November 1938 erhielten die Gefangenen des Wladiwostoker Besserungs- und Arbeitslagers die Erlaubnis, auf einem Fetzen Packpapier einen Gruß nach Hause zu schreiben. "Bin außerordentlich erschöpft. Abgemagert, fast nicht wiederzuerkennen. Aber Kleider zu schicken, Essen und Geld - weiß nicht, ob es Sinn hat. Versucht es trotzdem. Ich friere sehr ohne Kleider", schrieb Ossip Mandelstam an seinen Bruder nach Moskau. Zwei Wochen später starb der Schriftsteller, der einer Legende zufolge seinen Mithäftlingen am Lagerfeuer Petrarca-Sonette rezitiert haben soll, ausgezehrt und in geistiger Verwirrung. Er wurde in einem Massengrab verscharrt.

Schon in frühen Gedichten Mandelstams finden sich dunkle Ahnungen und Prophezeiungen eines gewaltsamen, anonymen Todes. Angesichts der Verfolgungen und ständigen Demütigungen, denen sich dieser Vertreter eines "extremen bourgeoisen Individualismus" (so die 1932 erschienene sowjetische Literatur-Enzyklopädie) seit den Zwanzigerjahren ausgesetzt sah, vermag das kaum zu überraschen. Wie ein Muster durchziehen Flucht und Wanderschaft, Obdachlosigkeit und Entbehrung das Leben dieses "Dichter-Nomaden". Wollte man seine Lebenswege (im wörtlichen Sinne) auf einer Landkarte nachzeichnen, es ergäbe ein dichtes Netz sich überschneidender Linien. Schon während seiner Petersburger Kindheit und Jugend war der 1891 geborene Ossip - russisch für Joseph - mit seinen Eltern, sehr um Assimilation und gesellschaftlichen Aufstieg bemühten Juden, ständig umgezogen. Später waren es zunächst Studieninteressen und innere Unruhe, dann materielle Not und politische Verfolgung, die ihn von Paris bis Heidelberg, von der Krim bis nach Armenien, vom Kaukasus bis in den Ural und schließlich nach Sibirien trieben.

In seiner Biografie folgt Ralph Dutli, Übersetzer und Herausgeber der ebenfalls im Ammann-Verlag erschienenen deutschsprachigen Mandelstam-Werkausgabe, den Spuren dieses rastlosen, unbehausten Dichters, den bis heute zahlreiche Mythen umranken. Sein Ziel ist es, hinter der Figur des asketischen "Märtyrers der Poesie", der sich gegen Stalins totalitären Staat für die Dichtung aufopferte, auch den lebensfrohen, sinnlichen, witzigen Mandelstam zum Vorschein zu bringen. Gegen eine voyeuristische, chronologisch geordnete Anhäufung von Fakten, gegen jede "Anmaßung, ein Leben knacken zu wollen", formuliert Dutli das Programm seiner Biografie als "Werkbiografie".

Tatsächlich legt er eine außerordentliche Zurückhaltung an den Tag, etwa wenn es um die Liebesaffäre zwischen Ossip Mandelstam und Marina Zwetajewa, einer anderen Ikone der russischen Literatur, geht: "Wie weit die erotische Annäherung zwischen den beiden ging, braucht keinen zu interessieren. Wichtig ist, was bleibt, was diese Dichter einander schenkten: Gedichte."

Wo Dutli diskret schweigt, lässt er die Gedichte umso ausführlicher sprechen. Die ersten poetischen Fingerübungen stammen aus der Zeit in Petersburg, wo Mandelstam sich 1911 dem Dichterzirkel um Anna Achmatowa und ihren Ehemann Nikolai Gumiljow anschloss. In deutlicher Abgrenzung zum russischen Symbolismus, dem sie Weltverneinung und schwulstiges Pathos vorwarfen, bekannten sich die Akmeisten - so der Name der Gruppe - zum Irdischen, Diesseitigen, Konkreten, zum "nüchternen Auge-in-Auge mit der Realität". Die frühen Gedichte Mandelstams verarbeiten trotz letzter symbolistischer Nachklänge auf höchst sinnliche Weise die Phänomene des modernen städtischen Alltags: Kino und Sport, Wolkenkratzer und Tourismus, Hupen und Benzingeruch. Doch anders als die futuristische Avantgarde um Majakowski, gegen die Mandelstam heftig polemisierte, bettet er die Erscheinungen der Moderne ein in eine klassische Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Was seine frühe Dichtung auszeichnet, ist jenes unmittelbare Nebeneinander von Altem und Neuem, Erhabenem und Banalem, antiker Poesie und russischer Gegenwart.

Die revolutionären Ereignisse der Jahre 1917/18 versetzen Mandelstam zunächst wie viele andere in Aufbruchsstimmung, doch fühlt er sich vom "roten Terror" Lenins und der zunehmenden Brutalisierung des Bürgerkriegs abgestoßen. Zudem lässt sich sein radikaler Individualismus kaum mit den Ansprüchen der neu sich formierenden kollektivistischen Ordnung, hinter der er schon früh die totalitären Züge erkennt, vereinbaren: "Während wir die Gesellschaft gestalten, vergessen wir oft, dass allem zuvor die Persönlichkeit gestaltet werden muss."

Noch bevor seine gesellschaftliche Verfemung und politische Verfolgung einsetzen, begibt sich der Einzelgänger ab 1923 in ein "inneres Exil". Gemeinsam mit seiner Frau Nadeschda, die er 1919 inmitten der Bürgerkriegswirren kennen gelernt hat, zieht der "Hellene unter barbarischem Himmel" von Ort zu Ort, von Zimmer zu Zimmer, stetig auf der Suche nach einer Arbeit oder Bleibe - nicht aus einem Hang zur Askese, wie so manche Legende es will, sondern aus schierer Not. Doch für den vermeintlich Ewiggestrigen, der jede Zeitgenossenschaft verweigert, für politische Propaganda unbrauchbar und für Lohnarbeit nicht geschaffen ist, gibt es in dieser "kolossal organisierten Welt" (so Nadeschda Mandelstam in ihren Memoiren "Jahrhundert der Wölfe") keinen Platz. Nicht einmal für die Zuteilung einer neuen Hose reicht in den Augen der Behörden Ossip Mandelstams gesellschaftliches Verdienst aus.

Bei aller Überempfindlichkeit und Ängstlichkeit legt Mandelstam selbst in den Jahren des schlimmsten Terrors und der brutalen Verfolgung unliebsamer Schriftsteller eine erstaunliche Zivilcourage an den Tag. Immer wieder verfasst er Protestschreiben, wehrt er sich lautstark gegen falsche Anschuldigungen und ohrfeigt öffentlich den offiziellen Sowjetschriftsteller Alexei Tolstoi. Zum Verhängnis gereicht ihm sein berühmtes Anti-Stalin-Gedicht, in dem er den Diktator als "Seelenverderber" und "Bauernschlächter" tituliert. Im Mai 1934 wird der an Herzschwäche leidende, nach eigener Auskunft vor der Zeit gealterte 43-jährige Schriftsteller verhaftet und nach einem misslungenen Selbstmordversuch in den Ural abtransportiert.

Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung folgt bald die Verurteilung zu fünf Jahren Arbeitslager. Das Kapitel über Mandelstams elendes Ende im sibirischen Gulag gehört zu den bewegendsten Passagen dieses Buches, das durch psychologisch einfühlsame, jedoch niemals aufdringliche Schilderungen besticht. Wenn Dutli sich der Person des Schriftstellers behutsam über das Werk nähert, so weist seine Biografie doch stets über dessen individuelles Schicksal hinaus: Nicht Mandelstam allein fiel der stalinistischen Diktatur zum Opfer, sondern die Literatur als Ganzes.

"Die arme Poesie weicht vor der Vielzahl der auf sie gerichteten Revolvermündungen strikter Forderungen. Wie muss Poesie sein? Vielleicht muss sie überhaupt nicht, vielleicht ist sie niemandem etwas schuldig." Seine radikale Absage an jede Vereinnahmung der Literatur hat Ossip Mandelstam mit dem Leben bezahlt.

 

FRANKFURTER RUNDSCHAU

Dokument erstellt am 25.11.2003 um 14:48:12 Uhr
Erscheinungsdatum 26.11.2003

RENATE WIGGERSHAUS

Im Jahrhundert der Wölfe

Woher nur nahm Ossip Mandelstam seinen Witz? Ralph Dutlis einfühlsame Biographie sucht die Antwort

Ralph Dutli, Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie. Ammann Verlag, Zürich 2003. 635 Seiten, 28.90 Euro

Wohl kaum ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat so viel Menschenverachtung, so viel Leid und Grauen erfahren, ohne seinen Wagemut, seine geistige Heiterkeit und visionäre Klarsicht zu verlieren, wie der russische Dichter Ossip Mandelstam. Es sind diese ans Wunderbare grenzenden Facetten seines Wesens, die der Russist und Mandelstam-Kenner Ralph Dutli in seiner so einfühlsamen wie präzisen Mandelstam-Biographie immer wieder aufscheinen lässt. Woher nahm der Dichter seine intensive Lebensfreude, seinen Witz und Humor, seine Gabe, noch in verzweifelten Situationen - bespitzelt und isoliert - seine Depressionen zu überwinden und offen zu sein für Augenblicke des Glücks: für die "Wolkenpracht" des Himmels, für Signacs "Sonne aus Mais" oder den "Chor" der schwarzerdigen Schollen, die ihm in der Verbannung zur "Freiheitserde" wurden, deren "schwarzberedtes Schweigen" die Hoffnung ausdrückt, dass das gedichtete Wort den Chronisten überleben wird?

Dutli schildert Ossip Mandelstam als einen Menschen voll scheinbarer Widersprüche: ein Weltbürger und Europäer, der sich Orten und Regionen wie etwa Petersburg, der Stadt seiner Kindheit und Jugend, oder Armenien, dem er einen ganzen Band mit Lyrik und Prosa widmete, oder der Krim, seinem "geliebten Ausblick auf den Mittelmeerraum", zutiefst verbunden fühlte und der gleichzeitig ein Leben in nomadisierender Unabhängigkeit führte. Marina Zwetajewa sprach 1916, als sie eine leidenschaftliche Beziehung zu dem 25-Jährigen hatte, von Mandelstams wehmütiger "Sehnsucht nach dem Heim, das er immerzu floh". Später allerdings wurden aus Mandelstams von geistiger Unruhe diktierten Aufbrüchen erzwungene Fluchten vor politischem Terror, wurde er im eigenen Land zu einem Ausgestoßenen, Unbehausten.

Auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen auch seine geistesgeschichtliche Verwurzelung im Russischen wie im Hellenistisch-Römischen, seine Zugehörigkeit zum Judentum - er wurde 1891 als erster Sohn einer assimilierten jüdischen Familie im damals zaristischen Warschau geboren - und seine Verbundenheit mit dem Christentum. Um nach Studienaufenthalten in Paris und Heidelberg an der Petersburger Universität studieren zu können, ließ er sich taufen. In der christlichen Kunst entdeckte er eine "lichtvolle innere Freiheit". Die sah er bedroht, als deutsche Soldaten 1914 die gotische Kathedrale von Reims zerstörten. Im letzten Vers eines frühen Antikriegsgedichtes verleiht er dem gotischen Dom zu Köln Stimme: "Was habt in Reims ihr meinem Bruder angetan!" Ein Jahr zuvor hatte er ebenso entschieden den verleumdeten Juden Mendel Bejlis gegen die antisemitischen Ausfälle des futuristischen Dichters Welimir Chlebnikow in Schutz genommen und Chlebnikow mit den Worten zum Duell aufgefordert: "Ich fühle mich als Jude und als Russe beleidigt" - denselben Chlebnikow übrigens, dem er neun Jahre später trotz eigener Not beistand, als jener obdachlos, verkannt und hungernd um Hilfe bat. Solche Verhaltensweisen waren für Mandelstam vereinbar dank seiner Weltzugewandtheit, seiner Großzügigkeit, seiner Bereitschaft zur Versöhnung.

Doch für solche Kultiviertheit waren die Zeiten alles andere als günstig. Bereits die Oktoberrevolution 1917 hatte ein fatales Resultat: Nicht das Proletariat, in dessen Namen die Demokratie erkämpft werden sollte, übernahm die Macht, sondern die bolschewistische Partei. In einem Anna Achmatowa gewidmeten Gedicht sprach Mandelstam von einem "Sieg mit abgeschnittenen Händen". Mit ihr, der lebenslangen, vertrauten Gesprächspartnerin und ihrem ersten Mann, Nikolaj Gumiljow, verband ihn die Zugehörigkeit zur Gruppe der Akmeisten.

Der Akmeismus, den er 1933 im Rückblick als "Sehnsucht nach Weltkultur" definierte, war eine literarische Bewegung, die den "Spielereien der Futuristen" und der mystischen Jenseitigkeit des russischen Symbolismus Wirklichkeitsnähe und Dinghaftigkeit der Sprache entgegenstellte und Kunst als lebendiges Gedächtnis begriff. Im Akme Verlag war 1913 Mandelstams erster Lyrikband mit dem anagrammatischen Titel Kamen ("Stein") erschienen. "Der Stein", heißt es in Mandelstams Essay über den Akmeismus, "wird unter den Händen des Baumeisters zur Substanz". Zur Parole der Bolschewiki aber wurde: "Mit eiserner Hand werden wir die Menschen ins Glück jagen." Die Schaffung der Geheimpolizei Tscheka mit dem Auftrag, "alle Konterrevolutionäre" zu vernichten, wurde Ausgangspunkt eines entfesselten Terrors. Wie reagierte Mandelstam auf diese Angst und Schrecken erregende Entwicklung? Zum einen mischte er sich ein. Kühn, aber vergeblich, als er beim Tscheka-Vorsitzenden Dserschinsky selber vorsprach; erfolgreich, als er den Komintern-Vorsitzenden Nikolaj Bucharin um die Freilassung seines inhaftierten Bruders oder die Verschonung fünf älterer Bankangestellter bat, die zur Abschreckung erschossen werden sollten. Der einflussreiche Bucharin half Mandelstam immer wieder in fast ausweglosen Situationen, bis er selber verhaftet, gefoltert und im dritten großen Schauprozess 1938 zum Tode verurteilt wurde.


Zum anderen: Mandelstam beobachtete genau. Er begriff, dass die Zwangsausweisung von Intellektuellen, die Errichtung eines Lagers schon zu Lenins Zeiten Vorboten für Schlimmeres waren. Den Vorsatz zu emigrieren gab er auf, als sein Freund Gumiljow 1921 als "Konterrevolutionär" erschossen wurde. Er glaubte, "seinem Schicksal nicht entgehen" zu können. Mehr oder weniger verborgen nistet das Grauen in seinen Gedichten. Von Untergang, Sterbezeit, Nachtschwärze, dem Verschwinden der Sonne ist die Rede. Immer seltener wurden seine Texte abgedruckt. Was der Zensurbehörde nicht passte, wurde von ihr einfach passend gemacht. Aus dem Satz "Die Kultur ist zur Kirche geworden" wurde "Die Kultur ist zum Heerlager geworden". Viele Gedichte, wie das berühmte vom "Wolfshund-Jahrhundert", trug Mandelstam nur noch vertrauenswürdigen Freunden vor. Trost, Ermutigung fand er in den tragischen Zeiten abgetrotzten Werken von Ovid, dem ans Schwarzmeer verbannten Römer, oder von Dante, dem zum Tode Verurteilten. "Das Gestern ist noch gar nicht geboren", schrieb er in dem Essay "Das Wort und die Kultur". "Mich verlangt es nach Ovid und Puschkin." Und in einer Prosaskizze: "Unsere Klassiker sind ein Pulverkeller, der noch nicht explodiert ist." Als jedoch die Verhältnisse immer unerträglicher wurden, Deportationen und Liquidierungen, Zwangskollektivierung und "Entkulakisierung" millionenfaches Leid bewirkten, bäumte sich alles in ihm auf. Sein Ehrgefühl, seine moralische Integrität, sein rebellischer Humanismus diktierten ihm das "Epigramm gegen Stalin", indem er den Diktator einen "Seelenverderber" und "Bauernabschlächter" nannte, seine Marionetten "schmalhalsige Brut". Mandelstam wurde denunziert, verhaftet, in dem berüchtigten Lubjanka-Gefängnis verhört und - wie seine Frau Nadeschda in ihrem großen Memoirenwerk Das Jahrhundert der Wölfe betont - "wunderbarerweise" nicht hingerichtet, sondern verbannt. "Isolieren, aber erhalten" hieß die Devise kurz vor dem ersten, von der Weltöffentlichkeit beobachteten sowjetischen Schriftstellerkongress.

Trotz Armut, Krankheit, Wohnungsnot, Depressionen entstanden in der Verbannung von Woreschnew noch einmal mehr als hundert Gedichte voller Musikalität - hellhörig und hellsichtig, rätselhaft lebensfroh und außerordentlich schön. Mandelstam war sich klar, dass es sich nur um einen Aufschub handelte: "Wir werden sterben wie das Fußvolk stirbt / Doch nicht ein Lobeswort für Raub und Unfreiheit und Lüge." Er wurde erneut verhaftet und zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Am 27. September 1938 starb er im eisigen Inferno eines Transitlagers bei Wladiwostock.

Ralph Dutli stellt Leben und Werk dieses - neben Achmatowa, Pasternak und Zwetajewa - zu den größten russischen Dichtern des 20. Jahrhunderts zählenden Mannes mit viel Empathie, dabei nüchtern und kenntnisreich dar. Seine Quellen sind neben Mandelstams Werk und Briefen vor allem das unschätzbare autobiographische Werk der heroischen Nadeschda Mandelstam, ferner Dichtungen und Tagebuchaufzeichnungen von Zeitgenossen, essayistische Arbeiten von Joseph Brodsky, Pier Paolo Pasolini, Philippe Jacottet und Mandelstams erstem Übersetzer Paul Celan, schließlich in den Archiven des KGB lagernde Verhörprotokolle und Untersuchungsdossiers, die erstmals 1991 zur Zeit von Gorbatschows Glasnost-Politik gesichtet und veröffentlicht wurden.

"Nur einen Leser möchte ich! Einen Helfer! Arzt! Auf Dornentreppen: ein Gespräch! Was gäb ich her..." endet eines der späten, in der Verbannung entstandenen Gedichte Mandelstams. Dutlis Biographie und das von ihm übersetzte und herausgegebene Werk des Dichters laden dazu ein, zum Leser und Gesprächspartner eines der kühnsten und menschenfreundlichsten Dichter des mörderischen zwanzigsten Jahrhunderts zu werden.